Varoufakis: "Die EU sagt das Richtige und tut das Falsche"

Als Griechenlands Finanzminister legte sich Yanis Varoufakis mit Europas Establishment an - und verlor. Warum er den Euro weiter scheitern sieht, die EU-Spitzen als Heuchler entlarvt und mit seinem einstigen Boss kein Wort mehr wechselt.

von Yanis Varoufakis © Bild: Hollie Adams/Getty Images

Er war der Popstar der Politik. Eine Figur, wie sie nur alle paar Jahrzehnte die Bühne betritt. Ein glatzköpfiger Wirtschaftsprofessor, der Finanzminister eines Pleitestaates wird, mit dem Motorrad zu Meetings fährt und Europas Eliten mit seiner unkonventionellen Art das Fürchten lehrt. Yanis Varoufakis' Aufstieg und Scheitern verfolgten 2015 selbst solche, die das Wort Griechenlandkrise schon lange nicht mehr hören konnten. Ganz gleich, ob sie die Thesen des linken Ökonomen teilten, bot er ihnen viel Fläche für Faszination und Hass zugleich. Und das ist selten geworden.

So blieb Varoufakis nach seinem Rücktritt ein gefragter Redner und Autor. Er gründete eine europäische Sammelpartei der Linken und zog als Abgeordneter ins griechische Parlament. Mit News spricht er über die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen, Schulden, die Pleiten von morgen und die Fehler von heute.

Herr Varoufakis, zuletzt waren Sie 2015 auf dem News-Cover. Das Heft war eines der meistgekauften in diesem Jahr. Die Österreicher scheinen Sie zu mögen.
Das freut mich. Gerade weil auch ich eine Schwäche für Österreich habe und das Land mag.

Damals waren Sie in der Schuldenkrise Griechenlands umstrittener Finanzminister, der im Clinch mit Europas Establishment lag. Teil Ihres Scheiterns war wohl auch, dass Sie sich von Ihrem Boss, Premier Alexis Tsipras, zunehmend entfremdeten. Reden Sie heute noch miteinander?
Entfremdung würde ich es nicht nennen. Er und ich kamen an die Macht, um ein einziges Ziel zu verfolgen: Griechenland aus der Schuldknechtschaft zu befreien. Wir kämpften gemeinsam dafür. Bis er sich gegenüber Angela Merkel und der Troika geschlagen gab. Ich trat danach zurück. Nicht weil wir zwei gestritten hätten, sondern weil es für mich dieses gemeinsame Ziel nicht mehr gab.

Yanis Varoufakis und Alexis Tsipras
© imago/Wassilis Aswestopoulos ENTZWEIT. Yanis Varoufakis und Alexis Tsipras haben kürzlich das erste Mal nach fünf Jahren wieder miteinander gesprochen

War das auch das Ende Ihrer Freundschaft?
Ja. Wobei Freundschaft ein großes Wort ist. Wir waren Gefährten in einem Kampf. Am Anfang war da Wärme, aus der Freundschaft hätte werden können. Aber es fehlte an Ehrlichkeit. Wenn jemand im Sinne von George Orwell der dunklen Kunst des "doublespeak" folgt, also zu dir das eine sagt und hinter deinem Rücken wiederholt das genaue Gegenteil tut, und das tat Tsipras, dann überlebt das keine Beziehung, außer man ist ein zynischer Politiker. Er ist nun Oppositionschef im griechischen Parlament, ich dort Abgeordneter einer kleinen, von mir gegründeten Partei. Und in diesen Rollen sprachen wir kürzlich das erste Mal nach fünf Jahren wieder miteinander, rein professionell. Persönliches ist da nicht mehr.

Wie geht es den Griechen in der Pandemie?
Die guten Menschen in Österreich und anderswo glauben, Griechenland sei damals gerettet worden und es ginge dem Land nun besser als 2015. Nichts könnte weiter entfernt von der Wirklichkeit sein. Der Propaganda gelang es, ein verzerrtes Bild zu zeichnen. Erlauben Sie mir einen Vergleich: Stellen Sie sich ein Gefängnis vor, eines, in dem schreckliche Bedingungen herrschen, die keinen kümmern. Es kommt zum Aufstand. Ein Teil des Gefängnisses brennt. Feuer lodert. Sie und Ihre Journalistenkollegen aus aller Welt sind plötzlich da, berichten und filmen. Das war 2015. Ist der Aufstand niedergeschlagen, ziehen Sie weiter, zur nächsten Geschichte. Wird schon besser geworden sein, glauben Sie, immerhin zeigen die Medien ja nichts mehr. In Wahrheit wurde es schlimmer, nur schweigen die Insassen seither.

Yanis Varoufakis
© imago images/ANE Edition STREITFIGUR. Yanis Varoufakis galt einst als Popstar der Politik und ist heute Abgeordneter im griechischen Parlament

Lässt sich das objektiv untermauern?
Zahlen lügen nicht. 2010, als die Finanzkrise begann, lag Griechenlands Jahreseinkommen bei 240 Milliarden Euro, die Schulden bei 290. Als ich 2015 Minister wurde, standen die Schulden bei 310, das Einkommen war auf 175 eingebrochen. Wir wurden gewählt, um das zu ändern. Heute stehen die Schulden bei 370, das Einkommen ist bei 162 Milliarden. Eine schöne Rettung, oder? Die Pandemie macht es nun schlimmer. Die erste Welle war hier noch harmlos. Aber über den Sommer geschah nichts. Jetzt schlägt die zweite voll zu. Wegen des erzwungenen Sparkurses der letzten Jahre fehlt uns die Hälfte der Ärzte. Die schon hohe Arbeitslosigkeit steigt weiter. Am meisten betroffen sind die, die es zuvor schon am schwersten hatten.

Es stimmt, Griechenland kommt medial kaum mehr vor. Mit Ausnahme von Lesbos und den Zuständen, unter denen Migranten dort hausen. Warum gelingt es Athen seit Jahren nicht, diese anständig unterzubringen?
Weil das die EU gar nicht erlaubt. Schlimmer noch: Es ist politisch gewollt, dass genau diese Bilder entstehen, dass sie als Botschaft in die Welt gehen. Die Flüchtlinge dort sollen den Menschen in ihren Herkunftsländern sagen: "Brecht erst gar nicht auf, es ist die Hölle." Wir alle als Europäer sind schuldig, diese Schande zuzulassen, es ist ein politisches Verbrechen.

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Aber Griechenland erhält von der EU Milliarden, um die Bedingungen in diesen Camps zu verbessern.
Das stimmt nicht. Das, was an Geld kommt, dient dem Hochfahren der Zäune, der Bewaffnung der Küstenwache, die Flüchtlinge an der Überfahrt hindern soll und dabei in der Ägäis Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht.

Machten Sie es damals im Amt besser?
Vergessen Sie nicht, ich war nur fünfeinhalb Monate Minister. Die großen Flüchtlingszahlen kamen erst nach meinem Rücktritt. Aber ja, wir versuchten als Regierung, die Lage zu bessern, und schufen für Flüchtlinge Zugang in unser Gesundheitssystem. Es ist bezeichnend, dass die rechte Nachfolgeregierung das als Erstes gleich wieder abschaffte.

Lassen Sie uns über den Euro sprechen, Ihr großes Thema. Sie prophezeiten der Währung ein baldiges Ende. Bereuen Sie die Fehleinschätzung?
Ich sagte damals, dass der Euro nicht nachhaltig sei und daher scheitern werde. Wir wissen aber nicht, wann. Ich verglich es mit der Sowjetunion. Schon in den Siebzigerjahren war vielen klar, dass sie zugrunde gehen würde, aber keiner konnte sagen, wie lange das dauert. Da Europa reich ist, lässt sich das Siechtum des Euro hinauszögern und dadurch noch mehr Geld verbrennen. Während an der Oberfläche alles stabil wirkt, verschieben sich im Untergrund die Platten: Die Kluft zwischen Arm und Reich innerhalb der Eurostaaten vergrößert sich. Auch der Abstand zwischen armen und reichen EU-Ländern wächst. Und Europa fällt im Vergleich zu China und den USA immer weiter zurück. Wo sind wir denn bei Zukunftstechnologien, etwa was Batterien angeht, künstliche Intelligenz, grüne Technologie? Weit abgeschlagen.

Das neue EU-Budget pumpt mit dem "grünen Deal" Milliarden in diesen Bereich. Genau so, wie Sie es vorschlugen, als Sie 2019 für das EU-Parlament kandidierten. Sie müssten glücklich sein.
Ganz im Gegenteil. Schon die verwendeten Begriffe sagen alles. Die EU-Kommission spricht vom "grünen Deal" und ließ das Attribut "neu" weg. Der "New Deal" geht auf US-Präsident Roosevelt zurück, der in den 1930er-Jahren Steuergeld in große öffentliche Projekte pumpte und so die Weltwirtschaftskrise überwand. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird aber genau das nicht tun und keine öffentliche Finanzierung bereitstellen. Die EU jongliert gern mit riesigen Zahlen, die sich beim näheren Hinsehen im Kleinen auflösen. Denn was bleibt von der einen Billion Euro für den "grünen Deal" wirklich? 29 Milliarden. Und selbst darin sind noch Flüssiggasprojekte enthalten, also nicht gerade grün. Das Prinzip ist einfach: Man sagt das Richtige und tut das Falsche. Es darf nur keiner bemerken. Journalisten dürfen sich da nicht blenden lassen.

Vielleicht fehlt auch das Geld. Durch die Pandemie stiegen die Budgetdefizite aller Eurostaaten 2020 auf 976 Milliarden Euro. Das ist zehnmal so viel wie im Jahr zuvor. Werden wir jetzt alle zu Griechenland?
Nein, das sicher nicht. Griechenland ging wegen politischen Missmanagements bankrott. Ich habe Ihnen vorhin die Zahlen unserer Verschuldung genannt. Griechenland ist heute objektiv bankrotter als je zuvor und kann sich trotzdem günstiger als je zuvor weiter verschulden. Zuletzt sogar mit Negativzinsen. Athen verdient also noch Geld damit.

Surreal. Wie geht das?
Griechische Staatsanleihen sind für Investoren heute lukrativer als etwa österreichische, bei denen die Negativzinsen noch höher sind. Zugleich bürgt die Europäische Zentralbank für das Risiko. Sie kann beliebig viel Geld drucken und dabei nicht bankrottgehen. Für den Investor ist das geradezu paradiesisch. Die Zeche zahlen all jene, die nicht an diesem Spiel teilnehmen: Sie und ich, die Bürger, aber auch kleine Firmen. Denn das frisch gedruckte Geld der Zentralbank geht an die großen Banken und von dort als Kredite an große Unternehmen. Diese investieren das Geld jedoch kaum, sondern kaufen damit lieber Pakete ihrer eigenen Aktien auf. Das treibt deren Kurs an den Börsen nach oben, was wiederum die Bonuszahlungen für die Firmenchefs steigert.

In der Pandemie fließt aber Staatsgeld gerade auch zu kleinen Firmen. In Österreich sollen sie im Lockdown 80 Prozent ihrer Vorjahresumsätze ersetzt bekommen. Das ist manchen zu großzügig.
Nein, das ist absolut richtig. Der Staat muss einspringen, um jetzt eine Pleitewelle zu verhindern, die ihn sonst später weit teurer käme. Lässt er Firmen bankrottgehen, muss er weit mehr Arbeitslose finanzieren und verliert zugleich Steuereinnahmen. Das Problem ist vielmehr das gedruckte und schlecht verwendete Geld der Europäischen Zentralbank.

Was wäre Ihre Alternative?
Echtes Geld in echte Projekte, die die grüne Transformation in Europa voranbringen, uns bei Zukunftstechnologien global aufholen lassen und dabei neue, gut bezahlte Jobs schaffen.

Wie viel Geld wäre dafür nötig und woher käme es?
Europaweit 500 bis 600 Milliarden Euro, und das jährlich. Die Europäische Investitionsbank würde dafür Schuldscheine ausgeben, die auch von der Zentralbank aufgekauft werden. Geht der Staat mit diesen Investitionen voran, springen bald auch private Investoren auf.

Das allein wird die steigende Arbeitslosigkeit kaum senken.
Nein, es braucht mehr. Die Zentralbank sollte das Geld, das sie sowieso druckt, jetzt aber den Banken gibt, direkt an die Bürger überweisen. Eine Einmalzahlung, etwa 2.000 Euro, direkt auf das Konto, ohne Papierkram, ohne Aufwand. Dieses Geld würde sofort in die Wirtschaft zurückfließen, neue Jobs schaffen und bestehende sichern. Wer 2021 besonders gut verdient, müsste das Geld am Ende des Jahres zurückzahlen. Hongkong hat genau das im vergangenen Jahr gemacht und es hat funktioniert. Und es würde bei den Bürgern auch die Begeisterung für Europa zurückbringen.

Yanis Varoufakis
© imago/photothek WIDERSACHER. Wolfgang Schäuble, seinerzeit deutscher Finanzminister, und sein damaliger Amtskollege Yanis Varoufakis nutzen jede Gelegenheit, um sich öffentlich zu streiten und zu belehren

Das klingt nun eher wie in Ihrem neuen Buch. Es ist ein utopischer Roman, in dem Sie eine Zukunft nach dem Kapitalismus entwerfen. Warum sollte Ihr alter Widersacher, Deutschlands Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble, ihn lesen?
Er würde ihn, glaube ich, ganz lustig finden und sich in einer der drei Hauptfiguren des Buches selbst wiederfinden. Eine ist ein enthusiastischer Technologe, einer, der vom Internet, künstlicher Intelligenz und all diesem Zeug ganz begeistert ist und glaubt, die Digitalisierung wird all unsere Probleme lösen. Dann gibt es den Schäuble-Charakter. Er hasst die Linke, ist vom Markt und vom Neoliberalismus überzeugt. Im Buch ist das eine Frau. Sie heißt Eva und ist Amerikanerin. Die dritte Figur ist eine Feministin. Und ich glaube, ich bin recht fair zu allen drei Figuren, sie sind nicht hohl, auch Eva kriegt ihre Chance und hat gute Argumente. Sie beruhen auf den Zweifeln, die ich meinen eigenen Theorien gegenüber habe.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (1/2021) erschienen.