"Ich habe gelernt,
mich selbst zu lieben"

Gerry Friedle alias "DJ Ötzi" hat die quälenden Selbstzweifel überwunden

Unter seinem Künstlernamen "DJ Ötzi" ist Gerry Friedle auf dem Weg zurück in die Charts. Seine quälenden Selbstzweifel hat er überwunden. Doch seine Erfolge sind und bleiben ihm unheimlich

von Gerry Friedle © Bild: Sebastian Reich

Herr Friedle, Sie sind seit Anfang Jänner 45 Jahre alt, ein Alter, in dem man sich Gedanken über die zweite Lebenshälfte zu machen beginnt. Ist es denn denkbar, dass Sie Ihr Häkelhäubchen eines Tages an den Nagel hängen, das Bärtchen abrasieren und ganz etwas anderes machen?
Es gab Momente, in denen ich das tatsächlich machen wollte, aber irgendwie wäre das total undankbar. Diese Haube, dieses Bärtchen, für mich ist das viel mehr als eine Verkleidung. Es ist ein Mittel, mich mitteilen zu können, es gibt ja in meiner Musik auch Botschaften. Ich weiß nicht, ob ich heute oder irgendwann das Recht habe zu sagen: Mir ist das alles wurscht.

In einem erprobten System möglichst lange gut zu funktionieren - geht es darum?
Ich muss gar nichts, ich tue es gerne, weil es mein Leben erfüllt. Wenn es mich irgendwann wirklich nicht mehr erfüllen sollte, dann mache ich schon etwas anderes.

Zum Beispiel?
Den Jakobsweg gehen.

Haben Sie eigentlich im Kopf, wie viele Platten Sie bisher verkauft haben?
Ja, das habe ich schon präsent. Allein schon "Hey Baby" hat fast neun Millionen Kopien verkauft, insgesamt sind es also sicher 16 Millionen Platten. Aber ich will mich da nicht so weit rauslehnen, denn es sind nicht die Zahlen, die mich erfolgreich machen, es ist die Anerkennung und die Liebe, die ich erfahre -und nun endlich auch entsprechend annehme.

"Ich werde geliebt!" - die wichtigste Mission von DJ Ötzi ist also, Gerry Friedle dieses Gefühl zu geben?
Natürlich ist das ein Teil seiner Aufgabe, aber nicht mehr der wichtigste, wie das vielleicht ganz am Anfang war. Mittlerweile habe ich begonnen, über meine Gesundheit zu reflektieren. Und Teil dieser Reflexionen war, dass ich mich jetzt auch mögen würde, wenn ich nicht erfolgreich wäre. Und dass ich mir darüber im Klaren bin, dass es auch andere gibt, die das tun: Ich habe eine supercoole Familie, und ich weiß, dass ich von ihr geliebt werde. Meine Frau Sonja, meine Tochter Lisa Marie, die sind da, um mich aufzufangen, und dafür bin ich sehr, sehr dankbar. Auch wenn Sonja und ich wie jedes Ehepaar unsere Fetzereien haben - das ist gar nicht so uncool, das frischt unsere Beziehung auf.

Draufzukommen, dass Sie auch um Ihrer selbst willen geliebt werden: Wie schwierig war das?
Ich habe schon zwei, drei Jahre gebraucht, um das klar wahrzunehmen. Eines Tages habe ich mir gesagt: Alter, das kann doch nicht sein, dass du von einer Krankheit in die andere kippst. Dieses "Gerry, du bist so arm", das ist doch Bullshit. Ich sagte mir: Nein, das will ich nicht, ich will gesund sein. Ich war wie ein Computer, den man resetten musste. Diese Auseinandersetzung, dieser Kampf mit dir selber, der ist nicht einfach, aber da musste ich durch.

Epilepsie, Hodenkrebs, Depressionen - wissen Sie denn heute, weshalb Sie von einer Krankheit in die andere kippten?
Weil irgendwas in mir nicht abgerundet war. Ich habe diesen Kreis jetzt geschlossen. Klingt einfach, ist es aber nicht. Es sah ja auch einfach aus, wenn der Hermann Maier die Streif runterbretterte. Natürlich gehst du da durch die Hölle, aber es ist ein schönes Gefühl, wenn du dann weißt, wo dein Problem liegt.

Und - wo lag Ihr Problem?
Um das herauszufinden, musste ich weit in meine Kindheit zurückblicken.

Ihre Mutter hat Sie nach der Geburt weggegeben.
Für sie war das damals eine Überforderung, ich will ihr heute daraus keinen Vorwurf mehr machen.

Sie kamen dann zu Zieheltern.
Damals, mit drei, vier Jahren, als ich noch bei Zieheltern lebte und dann von dort wegmusste, weg von der ersten tatsächlichen Liebe, die mir entgegengebracht wurde -heute weiß ich, dass ich das als Kind nicht verarbeiten konnte. So weit bin ich zurückgegangen, um zu erfahren, was in meinem früheren Leben schiefgegangen ist. Damals hat alles zu rebellieren begonnen, in meinem Geist, meiner Seele, meinem Körper. Ich trug über Jahre hinweg ein Pflaster, doch dann fragte ich mich: Wo liegt die Wunde? Die Zieheltern waren tieftraurig, als der Bua gehen musste. Und für mich waren das Menschen, die mich liebten.

Dann hat der Körper beschlossen, gegen diese Veränderung zu rebellieren?
Anders konnte ich mich nicht wehren. Dass mein Körper mit Krankheit antwortete, war natürlich krass - aber das war damals meine einzige mögliche Kommunikationsform.

Und wie haben Sie das alles dann aufgearbeitet?
Ich habe gelernt, in mich hineinzuschauen, mich wahrzunehmen. Und irgendwann habe ich nicht nur meine Mitte gefunden, sondern auch gelernt, mich selbst zu lieben. Vielleicht war ich damals auch in so etwas wie einer Opferrolle, aber heute weiß ich, dass ich trotz meiner damaligen Lebenssituation kein Opfer war und bin.

Was war denn die überraschendste Erkenntnis dieser Auseinandersetzung mit sich selbst?
Dass mir weder Erfolg noch Misserfolg in meinem Leben jene Aufmerksamkeit bringen können, die ich brauche. Ich werde geliebt und gewollt, weil ich der Papa einer tollen Tochter bin, weil ich ein guter Ehemann und Freund bin. Geliebt zu werden, weil man eine schwere Krankheit in sich trägt, ist Irrglaube und Bullshit.

In dem Buch "Der Popcorn- Effekt", in dem die ORF-Journalistin Claudia Reiterer die Erfolgsgeschichten prominenter Persönlichkeiten analysiert, werden Sie wie folgt zitiert: "Visionen, Kreativität und Ideen entstehen nur im Verlust." Wie ist das denn gemeint?
Wenn du auf einem Berg stehst und eine Vision hast, dann hebst du ab. Wenn es jemandem nicht gut ging, hat man früher gesagt: Gehst halt so lange in den Keller, bis dir etwas einfällt. Ich glaube, es ist ganz wichtig, auch das Tal wahrzunehmen. Trauer etwa muss ich mit mir ganz alleine ausmachen, das kann und will ich nicht vor meiner Tochter und nicht vor meiner Frau. In meiner Schwäche will ich alleine sein, ich will sie vor diesen Dingen beschützen.

Alle Ihre Erfolge haben ihren Ursprung in Momenten, in denen Sie ganz unten waren?
So pauschal kann man das nicht sagen. Aber irgendwie stimmt schon: Ich komme nur richtig in Schwung, wenn ich in meiner Selbstwahrnehmung unten bin; nur aus meiner Sicht unten, nicht unbedingt aus dem Blickwinkel der anderen. Dann kann ich Luft holen und Schwung nehmen. Andere machen das sachlicher, aber ich kann nur aus meiner tiefen Emotion heraus fühlen, was richtig oder falsch, gut oder schlecht ist.

Und wenn es Ihnen gut geht?
Ich bin der Beste und Geilste - so denke ich nicht und hielte es auch nicht für richtig. Dazu gehört auch, dass man Erfolge ohne Selbstinszenierung feiern kann und nie die Gefahr aus den Augen verliert, in Hochmut zu verfallen. Das ist eine Lebensweisheit, die mir von meiner geliebten Großmutter mit auf den Weg gegeben wurde. Ich bin mit beiden Beinen am Boden und hüte mich vor einem Überdrüber-Zustand.

Sie erwähnen Ihre Großmutter, die dieser Tage verstarb. Sie sind ja bei ihr aufgewachsen. In Ihrer Kindheit und Jugend war sie wohl so etwas wie...
...meine Herzensliebe. Sie war die Einzige, die immer, immer, immer an mich geglaubt hat. Auch in Zeiten, wo ich ein Bub war, der ihr nicht nur Freude gemacht hat, hat sie gesagt: "Gerry, du schaffst das, geh dich vorstellen, mach dies oder mach jenes." Ja, die Oma war schon ein großer Antrieb, und das werde ich ihr mein ganzes Leben lang nicht vergessen. Schon als ich fünf oder sechs Jahre alt war und wir gemeinsam im Fernsehen Sendungen wie "Musik ist Trumpf" gesehen haben, hat sie zu mir gesagt: "Wirst sehen, da kannst du auch einmal auftreten." Sie hat bedingungslos an diesen Buben Gerry geglaubt, ihn einfach immer nur geliebt und mir mit ihrem großen Herzen viele gute Ratschläge gegeben. Als hätte sie vorhergesehen, dass ich eines Tages doch Karriere machen würde, hat sie mir immer gesagt: "Wenn du aufsteigst, pass immer auf, dass du nicht über deine Beine stolperst." Das habe ich so in meinem Kopf drinnen, dass ich immer davor gefeit sein werde, mich in meinen Erfolgen zu inszenieren oder den Kopf zu verlieren.

Aber Ihre Erfolge kann Ihnen doch keiner mehr nehmen.
Es geht nicht nur um den beruflichen Erfolg. Der Hochmut kann alles zerstören, vor allem, was grundsätzlich wichtig ist - Familie und Freundschaften. Um im Leben Erfolg zu haben, muss man grundsätzlich demütig und dankbar sein, sonst kann man ihn nicht bewahren. Auch das hat mir meine Oma eingebläut, und das versuche ich mit meiner Familie zu leben. Ich habe schon so viele Leute über ihre Eitelkeit stolpern gesehen. Nein, ich mache es lieber wie ein Champignon: Bleibe am Boden, weil wenn du zu weit raufwächst, hauen sie dir die Kappe ab.

Und einmal so richtig auf die Pauke hauen?
In meiner Demut kann ich ja auch großzügig sein - meinen Leuten gegenüber, das taugt mir, das macht mir Spaß. Mir gegenüber muss ich nicht großzügig sein, ich habe ja alles. Nicht nachdenken zu müssen, wenn ich jemanden einlade, das bedeutet mir wirklich was.

Und wenn ein Album oder ein Song nicht funktioniert...
...dann sterbe ich. Dann sterbe ich hundert Tode. Denn wenn ich was veröffentliche, dann ist es mir ein großes Anliegen, dass der Song auch funktioniert. Er muss einfach passen.

Was heißt passen? Warum muss es für jemanden wie Sie, der finanziell ausgesorgt hat, kommerziell immer passen? Warum reicht es nicht, zu sagen: "Ich finde das gut"?
Nein, das reicht nicht, weil ich wie ein Sportler in meiner Disziplin der Beste oder zumindest ganz vorne dabei sein will. Bei meiner Musik und meiner Kunst geht es nicht einfach nur ums Geld. Wenn es den Leuten nicht gefällt, ist mir das nicht wurscht. Mein Album mit den Bellamy Brothers, das war richtig gut, aber es hat nicht funktioniert, und das hat mir wehgetan. Das hat mir fast das Herz zerrissen, weil ich so viel Liebe hineingelegt habe und diese Liebe beim Publikum und meinen Fans nicht angekommen ist.

Was ist das für ein Gefühl, wenn man auf der Bühne steht und Zentrum einer lauten, brodelnden Party ist?
Ich bin ja nur die Schnittstelle. Ich darf die Leute für eine gewisse Zeit von ihren Problemen, ihren Krankheiten, ihren Schulden befreien; sie in einen Zustand versetzen, in dem sie an nichts Negatives denken. Es ist ein geniales Geschenk, das machen zu dürfen. Da passiert ein gigantischer Energieaustausch -aber ich selbst kann nicht in der Masse stehen. Ich liebe Bon Jovi, aber bei ihrem Konzert in Wien ,wo ich mitten im Publikum stand, musste ich nach zwei Nummern gehen, weil ich echte Angstzustände bekam. "Alter, was ist mit dir los?", dachte ich mir. Ich kann vor vielen Leuten auf der Bühne stehen, aber nicht in der Masse. Wenn ich der Hans Müller wäre, könnte ich mitfeiern. Ich würde das wahnsinnig gerne machen, weil es mich abrundet. Als ich noch unbekannt war und Van Halen in Spielberg spielten, war ich ganz vorne dabei und habe mitgegrölt. Aber jetzt, wo mich jeder kennt, über diese Mauer zu steigen, so mutig zu sein, dass mir das wurscht ist - das muss ich noch lernen. Aber das krieg ich irgendwann auch noch hin.

Sie haben ein wunderbares Haus, eine wunderbare Familie, doch nur einen Steinwurf entfernt am Walserberg stehen die Flüchtlinge Schlange. Was macht es mit Ihnen, wenn die große, brutale Welt Ihre kleine, heile einholt?
Ich nehme für mich in Anspruch, ein weltoffener Mensch zu sein. Mein Grundsatz lautet: Respektiere, was den anderen heilig ist, und ziehe deine Grenzen dort, wo Handlungen andere verletzen. Ich verschließe mich vor niemandem. Und ich kann immer noch träumen - von einer Welt ohne Krieg und Verfolgung. Ohne mich damit in der Öffentlichkeit zu brüsten, will ich in meiner Privatheit nach Kräften dazu beitragen.

Herbert Grönemeyer oder Til Schweiger sind auch massentaugliche Künstler und äußern sich gesellschaftspolitisch. Warum Sie nicht?
Ich sehe es nicht als Teil meines Jobs und meiner öffentlichen Aufgabe an, politische Empfehlungen auszusprechen. Ein Grönemeyer ist in seiner Kunst viel politischer als der DJ Ötzi. Meiner Meinung nach habe ich auch als Unterhaltungskünstler eine Verantwortung und werde meine Popularität sicher nicht dazu nutzen, die Menschen in eine gesellschaftspolitische Richtung zu drängen oder dahin zu verführen.

Wie wichtig ist Ihnen Geld heute noch?
Irgendwann ausgesorgt zu haben - darum ist es mir im Grunde nie gegangen. Zunächst ging es mir nur darum, zu überleben und Anerkennung zu bekommen. Sicher gibt es auch Leute, die mich nicht mögen, aber das ist okay. Von der Droge Beliebtheit bin ich nicht abhängig - und von der Droge Geld schon gar nicht.

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