Warum wir Langeweile brauchen

Wir können uns nicht mehr richtig fadisieren. Dabei braucht unser Gehirn Langeweile, um kreativ zu werden. Zudem sollen Frust und Langeweile sozialer machen und sich langfristig positiv auf die Entwicklung von Kindern und deren Selbstwert auswirken. Ein Plädoyer für mehr Nichtstun.

von Warum wir Langeweile brauchen © Bild: iStockphoto.com

Angenehm ist das Gefühl der Langeweile sicherlich nicht immer. Man begegnet ihr beinahe täglich, und das, obwohl unser Leben gefühlt immer stressiger wird: Sei es, dass man sich ihr stundenlang im Wartezimmer hingeben muss oder auf einen verspäteten Flug wartet.

Die Psychologie definiert Langeweile als unangenehmen Gefühlszustand, der in sich wiederholenden, bedeutungslosen oder auch in unterfordernden Situationen entstehen kann. Meistens sind die Folgen von Langeweile negativ und sowohl psychisch als auch körperlich spürbar: Eine aktuelle Studie der Universität Wien konnte nun international erstmals belegen, dass sich große Langeweile gerade in Prüfungssituationen negativ auf das Ergebnis auswirken kann. Diese tritt erstaunlicherweise dann ein, wenn der Prüfungsstoff für die Schüler besonders wenig persönliche Relevanz hatte. Zudem wirkt sich Langeweile negativ auf die Arbeitszufriedenheit aus. Längerfristig wird ihr außerdem ein Zusammenhang mit ungesundem Konsumverhalten, sadistischem, aggressivem Verhalten, depressiver Verstimmung, Suchtverhalten und Essstörung attestiert. Auch auf die politische Gesinnung kann sich Langeweile auswirken: So sollen Menschen, die sich häufiger langweilen, eher radikalen politischen Vereinigungen anschließen.

Positive Effekte

Neuere Forschungsergebnisse liefern jedoch Hinweise darauf, dass Langeweile auch positive Effekte haben kann. Eine Untersuchung von Wijnand van Tilburg vom King's College in London und Eric Igou von der Limerick Castletroy Universität in Irland konnte zeigen, dass Langeweile stets den Bedeutungsverlust einer bisher ausgeübten Tätigkeit signalisiert und Menschen demnach dazu motivieren kann, nach neuen, bedeutenderen Tätigkeiten und Zielen zu streben. Kurz: Gelangweilte Menschen möchten positive Veränderung und Sinnhaftigkeit herbeiführen.

»Ein gesundes Maß an Frust ist somit wichtig für die Entwicklung«

Rüdiger Maas, Generationsforscher, Arbeits- und Organisationspsychologe

Zu diesen Zielen kann auch das Streben nach Zugehörigkeit zählen: Die Forschenden stellten die Hypothese auf, dass mehr Langeweile zu mehr prosozialem Verhalten führt. Sie untersuchten, wie spendabel Menschen waren, nachdem sie in langweiligen Situationen verharren mussten, und kamen zu dem Ergebnis, dass Langeweile tatsächlich die Spendenfreudigkeit erhöhen kann.

Neurologische Sichtweise

Neurologisch gesehen ist Langeweile gar nicht so leicht zu messen: Ein Proband im Kernspintomografen kann zum Beispiel plötzlich abgelenkt werden, ohne dass er diese Erregung benennen und als intervenierend ausschalten könnte. Belegt ist aber, dass durch Langeweile das sogenannte "Default Mode Network", das auch als Ruhezustandsnetzwerk bezeichnet wird, aktiv wird. Dies aktiviert sich immer dann, wenn das Gehirn sich mit sich selbst beschäftigt und keine oder nur wenige Informationen von außen auf das Gehirn einprasseln. Es ist also nicht nur bei Langeweile aktiv, sondern auch dann, wenn man einfach nur aus dem Fenster schaut, aufmerksam ist und Ruhe genießt, sprich: dann, wenn die Gedanken wandern dürfen. Ist das Default Mode Network aktiv, kommen Menschen ins Nachdenken, ins Grübeln, die Erinnerung wird aktiviert.

In diesem assoziativen Zustand stellt das Gehirn Verknüpfungen her, Ideen werden geformt. Der positive Effekt von Langeweile auf die Kreativität ist wissenschaftlich dokumentiert und auch, dass dieser assoziative Vorgang abbricht, sobald Menschen in einem Moment der Ruhe zum Smartphone greifen. Langeweile und Zwangspausen auszuhalten, sind Menschen durch die zunehmende Digitalisierung nicht mehr gewohnt. Jede kleine Pause im Alltag wird in der Regel sofort mit dem Griff zum Smartphone überbrückt. Bei längeren Fahrten helfen Audioinhalte über langweilige Leerlaufphasen hinweg, die Zeit im Wartezimmer wird auf Social Media ganz einfach weggewischt.

Oft tun wir dies sogar weit über unsere eigentliche psychische Schmerzgrenze hinaus und riskieren negative Effekte auf unsere Gesundheit: "Doomscrolling" bezeichnet das ständige, exzessive Konsumieren vornehmlich negativer Nachrichteninhalte in Form von Artikeln, Videos oder anderen Social-Media-Beiträgen. Diese Art der Mediennutzung kann fatale negative Konsequenzen auf die mentale Gesundheit haben: Indirekte Traumatisierung nennen Psychologen diesen Effekt des Doomscrollings. Nach dem Überfall auf die Ukraine beobachteten Experten diesen Effekt vor allem bei jungen Männern, die sich dem Bann der Nachrichten nur mehr schwer entziehen konnten. Selbst dann, wenn sie nicht direkt davon betroffen waren.

70 Prozent der Kinder in Deutschland im Alter von zwei bis drei Jahren nutzen bereits täglich mindestens eine halbe Stunde lang die Digital Devices, wie Smartphone und Tablets, der Eltern

2/3 der männlichen Probanden einer Studie der University of Virginia nahmen lieber Stromschläge als "Beschäftigung" in Kauf, als sich zu langweilen

Generation "dauerbespaßt"

Rüdiger Maas ist Generationenforscher und plädiert schon lange dafür, Langeweile wieder öfter zuzulassen. Ganz aktiv und bewusst ohne Handy. Vor allem bei Kindern. In seinem neuen Buch "Glücklich durch Frust" schildert Maas die negativen Konsequenzen fehlender Langeweile auf die Entwicklung und warnt eindringlich davor, dass durch das ständige Vermeiden von Frust eine konfliktscheue Generation mit geringem Selbstwertgefühl erzogen werden könnte.

"Langeweile wird oft als Verschwendung von Lebenszeit ausgelegt. Wir sind eine Leistungsgesellschaft und viele denken, 'Wenn mir langweilig ist, mache ich etwas nicht richtig.' Dabei ist das Erleben von Frust gerade im Kindesalter wichtig, weil es lehrt, progressiv Situationen zu meistern. Heutige Kinder dürfen jedoch keinen Frust mehr erleben, weil Eltern glauben, immer sofort agieren zu müssen. Dadurch wird Hilflosigkeit erlernt und die Kinder entwickeln keine intrinsische Motivation, selbst aktiv und kreativ zu werden. Ein gesundes Maß an Frust ist somit wichtig für die Entwicklung", erklärt Maas.

Wenn Eltern ihren Kindern ständig alles abnehmen, sei es das Binden von Schuhbändern oder auch, dass Kinder in ihren Alltag gar nicht richtig integriert werden, kann sich das langfristig auf ihre Zufriedenheit und Fähigkeit, Probleme zu lösen, auswirken. Ähnliche Hinweise darauf gab es bereits in den Siebzigerjahren: Der Psychologe Walter Mischel untersuchte Kinder im Kindergartenalter auf ihre Geduld, indem er ihnen ein Marshmallow präsentierte und sie aufforderte, mit dem Genuss der Süßigkeit 15 Minuten zu warten.

Wer die Geduld aufbringen konnte, wurde mit einem zweiten Marshmallow belohnt. Das Experiment zeigte, dass der Großteil der Kinder mit dem Verzehr nicht warten wollte und so die schnellere, geringere Belohnung vorzog. Jene Kinder jedoch, die sich 15 Minuten lang gedulden konnten, zeichneten sich durch besonderes Fantasievermögen aus: Obwohl ihnen das Warten sichtlich schwerfiel, fingen sie nach einigen Minuten an, mit dem Marshmallow zu spielen. So überbrückten sie die Wartezeit spielerisch und fantasievoll. Mehr als ein Jahrzehnt später untersuchte der Forscher die Probanden des Experiments erneut und konnte feststellen, dass die Geduldigeren von ihnen erfolgreicher in Beruf und Ausbildung waren, über eine bessere Stressresistenz verfügten und ausgeglichener waren. Mischel führte dies auf eine höhere Frustrationstoleranz und Impulskontrolle zurück. Beides lernen Kinder nur, wenn ihnen das Gefühl von Frust und Langeweile bekannt ist.

Süßes Nichtstun

Die Vermeidung von Langeweile und konsequente Dauerbeschäftigung in Form von exzessiver Freizeitgestaltung sowie - vor allem - dem regelmäßigen Nutzen von Digital Devices im Kindesalter hat also nicht immer den Effekt auf Kinder, den Eltern sich oft wünschen würden. Erst dann, wenn Kinder sich langweilen und nichts mit sich anzufangen wissen, erhalten sie die Chance, ins Spiel zu kommen, kreativ zu werden und, im weitesten Sinne, Resilienz zu erlernen. Dasselbe gilt für Erwachsene. "Es ist wichtig, mal nichts zu machen und einfach mal runterzukommen", erklärt Maas. "Auch, wenn es uns unsinnig vorkommt."

Buchtipp: Warum Eltern weniger bespaßen sollten, erklärt Generationenforscher Rüdiger Maas in "Glücklich durch Frust": Ein Ratgeber, der beschreibt, wie Langeweile und Widerstände Kinder resilienter machen.*

Episodische Langeweile

Wie so oft macht die Dosis das Gift. Auf das richtige Maß und auch die Art der Langeweile kommt es an. Während gelegentliche Langeweile im Kindesalter zu mehr Selbstständigkeit und höherer Selbstkontrolle führen mag, kann zu viel Langeweile im schlimmsten Fall eine negative Abwärtsspirale bedingen, die sich auf die mentale Gesundheit niederschlägt: Das Boreout-Syndrom, bei dem Menschen aufgrund von Unterforderung krank werden, ist mittlerweile mindestens so häufig verbreitet wie das Burnout-Syndrom.

Episodische Langeweile nennen Experten die Art des positiven Fadisierens, das uns täglich begegnet. Ganz vermeiden kann man Langeweile ohnehin nie: Fade Schulstunden müssen durchgehalten, die Zeit im Wartezimmer abgesessen werden. In diesen Situationen kann man entweder zum Handy greifen oder sich von den alten Stoikern inspirieren lassen: Es wird immer Dinge geben, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Wir können uns entweder mit dem Handy ablenken oder in Gelassenheit üben. Zweites ist garantiert nachhaltiger - und eigentlich ganz schön fordernd.

Der Beitrag erschien ursprünglich im News 43/2023.

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