Wenn Mitarbeiter ihr
Gehalt selbst bestimmen

In einer Hamburger Agentur werden Angestelltenträume wahr

Welcher Arbeitnehmer träumt nicht davon, sein Gehalt selbst zu bestimmen? In einer Hamburger Kreativagentur ist das Alltag. Und nicht nur das: Die Angestellten kommen und gehen, wann sie wollen, es gibt keine abgezählten Urlaubstage und alle zwei Jahre wird die Geschäftsführung gewählt. Wie das funktioniert.

von Fakten - Wenn Mitarbeiter ihr
Gehalt selbst bestimmen © Bild: © Copyright 2015 Corbis

Seit mittlerweile beinahe drei Jahren legen die Mitarbeiter der Social-Media-Agentur „Elbdudler“ ihre Gehälter selbst fest. Ursprünglich war die revolutionär anmutende Idee aus der Not geboren. Von der Gründung des Unternehmens im Jahr 2009 an hatten alle Mitarbeiter das Gleiche verdient: 2.500 Euro brutto.

Doch dieses System stieß im Sommer 2013 an seine Grenzen, wie Geschäftsführer Julian Vester dem „Business Insider“ erzählte: „Irgendwann kamen Mitarbeiter auf uns zu und meinten, dass sie inzwischen mehr Kompetenzen haben, verschiedene Erfahrungen gesammelt hätten und auf dem freien Markt mehr bekommen würden.“ Zusätzlich hätte das Unternehmen zu diesem Zeitpunkt neue Mitarbeiter gesucht, die auch mehr Gehalt forderten.

© Elbdudler Julian Vester (2.v.r.) mit der Elbdudler-Geschäftsführung

Vester selbst wollte die Entlohnung aber nicht festlegen, da er von manchen Mitarbeitern gar nicht wusste, was sie eigentlich leisten. Also überlegte er sich das System mit den selbst festgelegten Gehältern. Einmal im Monat kann bei Elbdudler jeder Mitarbeiter argumentieren, warum er seiner Meinung nach mehr Geld verdienen sollte. Entschieden wird über die Erhöhung dann von allen Kollegen gemeinsam, einfache Mehrheit genügt. Im Schnitt fordern die Angestellten alle eineinhalb Jahre etwa 300 Euro mehr Lohn.

Freie Urlaubswahl

Das ist jedoch nicht alles: Es gibt auch weder fixe Anwesenheitszeiten noch eine festgelegte Anzahl an Urlaubstagen. „Manche Menschen brauchen mehr Urlaub, andere weniger – das kann ich doch nicht von außen festlegen. Wer wegfahren will, kann das jederzeit tun“, erzählte Vester dem Online-Magazin „t3n“. Freilich gebe es für alles Grenzen des Leistbaren, dennoch bleibt den Angestellten bei Elbdudler vieles freigestellt. Viele haben, so unglaublich das klingt, nicht einmal Arbeitsverträge. Wer will, bekommt einen, er als Chef bestehe aber nicht darauf.

© Elbdudler Systematische Unangepasstheit: Elbdudler residiert in einer alten Kirche

Dazu passt auch, dass die Agentur in autonomen Teams funktioniert. Wenn eines der Teams neue Mitarbeiter braucht, kümmert es sich selbst darum – Bewerbungsgespräche und Gehaltsverhandlungen inklusive.

Nicht jede Forderung geht durch

Womit wir wieder beim Thema Löhne wären. Wer nun jedoch glaubt, dass die Mitarbeiter jede Forderung ihrer Kollegen durchwinken würden, irrt. Überzogene Forderungen wie der bislang größte beantragte Gehaltssprung in der Höhe von 1.000 Euro würden abgelehnt. Dennoch ist die Kollegenschaft für Vesters Geschmack noch zu gutmütig. Doch nach welchen Kriterien wird die Angemessenheit der Gehälter dann beurteilt?

Vier Fragen sollte sich jeder Mitarbeiter stellen, wenn es ums Geld geht, erläutert der Chef: „Was sollte ich für meine Leistung bekommen? Welches Gehalt würde ich auf dem freien Markt verdienen? Was verdienen meine Kollegen? Und was kann das Unternehmen sich leisten?“

© Elbdudler Wo früher der Altar war, werden jetzt Besprechungen abgehalten

Um die letzteren beiden Fragen beantworten zu können, herrscht bei Elbdudler in finanziellen Dingen absolute Transparenz. „Vom Geschäftsbericht bis zu den Kosten für Klopapier“ sind alle Zahlen für alle Mitarbeiter offen einsehbar, berichtet Vester. Das führe auch zu Verständnis dafür, dass etwas einmal nicht geht. Nach der ersten Runde der Gehaltsverhandlungen stiegen die Gesamtlöhne etwa um zehn Prozent. Das konnte sich die Agentur damals nicht leisten, also einigten sich alle gemeinsam darauf, den Umsatz um 18 Prozent zu erhöhen.

Gefahr der Selbstausbeutung

Unterm Strich hat das System also „einen unglaublichen Produktivitätsschub ausgelöst“, wie Vester der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) erzählte. Eine Auswirkung, die Experten jedoch auch kritisch sehen. „Die vermeintliche Selbstbestimmung hebelt alles aus, was der Gesetzgeber an Rahmenbedingungen für Arbeitsplätze geschaffen hat: individuelles Arbeitsrecht und Betriebsverfassungsrecht gleichermaßen“, moniert etwa der deutsche Arbeitsforscher Werner Nienhüser in der „SZ“. So könne die vermeintliche Selbstbestimmung schnell in Selbstausbeutung enden.

Der Wiener Arbeits- und Organisationspsychologe Paul Braunger kann dem Modell Elbdudler hingegen durchaus auch positive Seiten abgewinnen. Zwar könne totale Mitbestimmung Menschen auch überfordern und auch die Bedeutung gruppendynamischer Prozesse in der Entscheidungsfindung wäre für manche bestimmt gewöhnungsbedürftig. Doch das System würde sich wohl dahingehend selbst regulieren, dass davon Mitarbeiter angezogen werden, die damit auch gut können, mutmaßt Braunger.

Psychischen Belastungen vorbauen

Davon abgesehen könnte durch die weitestmögliche Mitbestimmung, Eigenverantwortung und Partizipation vielen psychischen Belastungen entgegengewirkt werden, wobei der Psychologe die Bedeutung dieser Bedürfnisse auch klar als Generationsfrage deklariert: "Die Generation Y fordert Mitbestimmung und zeitliche Flexibilität ein und legt besonderen Wert auf die Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit." Grundsätzlich wäre ein solches Modell aber nicht in jedem Unternehmen umsetzbar. Je kleiner die Firma und je ähnlicher die Tätigkeitsbereiche, desto leichter lässt sich ein solches Modell laut Braunger implementieren.

Bei Elbdudler scheinen die Kritikpunkte in jedem Fall nicht zu greifen. Die Zahl der Bewerbungen steigt stetig und auf dem Unternehmens-Bewertungsportal „Kununu“ kann die Agentur auf 4,35 von fünf möglichen Punkten verweisen. Und sollten die Mitarbeiter mit den Arbeitsbedingungen einmal nicht mehr zufrieden sein, können sie ihren Chef ja ganz einfach abwählen.

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