Gaza-Flüchtling: Zurück zum Anfang

Ob in Italien, im Traunviertel oder daheim in Gaza - überall ist er ein Flüchtling

von Gaza © Bild: Veronika Dolna

Niemand im Kaffeehaus in Gaza-Stadt trägt solche Schuhe wie Hani Alreqeb. Sie sind knöchelhoch, aus festem Leder, haben ein gutes Profil. Gäbe es einen Berg in Gaza, könnte man ihn mit diesen Schuhen besteigen. Doch es gibt hier keine Berge, keine Schuhgeschäfte und überhaupt nur sehr wenig von allem. Deshalb ist Alreqeb auf seine Wanderschuhe besonders stolz. Es ist kühl im klimatisierten Kaffeehaus, aus kleinen Boxen klimpert ein Jazzpiano, an der Wand klebt eine Fototapete mit Alpenpanorama. "Es erinnert mich an Österreich hier", sagt er und bestellt einen Kaffee mit Kardamom. An Österreich erinnert er sich gerne.

Vor der Tür fiebert eine unruhige Hitze. Es ist einer dieser Nachmittage, wie es sie in letzter Zeit öfters in Gaza gibt und an denen die Nervosität die Luft zum Flirren bringt. Israelische Soldaten haben kürzlich wieder mehrere Tunnel der Hamas entdeckt. An der Grenze, nur wenige Kilometer vom Kaffeehaus, wird geschossen. An den Straßenecken sammeln sich schwarz gekleidete Hamas-Polizisten mit Maschinengewehren. Alreqeb zuckt mit den Schultern: "Das ist nichts Neues. Wir haben unser ganzes Leben im Krieg verbracht."

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© Veronika Dolna Nach eineinhalb Jahren kehrte Hani Alreqeb nach Gaza zurück: "Meine Kinder sollen in diesem Chaos nicht ohne Vater aufwachsen."

Hani Alreqeb ist 35 Jahre alt, Vater von vier Kindern, Einwohner von Gaza. Er hat viele Gründe, seine Heimat zu verlassen. Aber zu wenige, um mit seiner Familie in Österreich Asyl zu bekommen. Der letzte Krieg im Sommer 2014 bewog ihn endgültig zum Gehen. Mit seiner Familie hatte er fünf Wochen in einem Massenlager in einer Schule verbracht, um sich vor den Bomben in Sicherheit zu bringen. "Mein jüngster Sohn Amir ist sieben. Es war für ihn bereits der dritte Krieg seines Lebens", sagt Alreqeb. Das Haus, in dem die Familie vor dem Krieg gewohnt hatte, war zerstört. Sie musste in eine kleine Mietwohnung ziehen.

Reklame für den Märtyrertod

Alreqeb ist ein ruhiger Mensch, den nichts leicht aus der Fassung bringt. Aber so, beschloss er damals mit für ihn untypischem Zorn, so könne es nicht weitergehen. Er beschloss, seinen Kindern eine bessere Zukunft zu bieten. In Österreich, einem Land, das er nur aus dem Internet kannte. Er sah Bilder von Bergen und Seen. Er las, dass er innerhalb von drei Monaten zum Asylverfahren zugelassen werden würde. Nach einem halben Jahr, so stand es da im Internet, würde er seine Familie nachholen können.

Sherin, seine Frau, wollte nicht, dass er geht. Sie wusste nicht, wie sie die Kinder durchbringen sollte, während er weg ist. Sie musste. Und sie hatte Angst, dass er die Reise nach Europa nicht überleben würde. Doch Alreqeb versprach ihr, bald Geld für die Miete zu schicken. Und er zeigte ihr Bilder von großen Kreuzfahrtschiffen im Internet: "Mit so einem Boot werde ich nach Italien fahren", log er. Sie sollte sich keine Sorgen machen.

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© Veronika Dolna Seit dem letzten Krieg 2014 liegen ganze Viertel von Gaza-Stadt in Trümmern. Der Wiederaufbau geht nur langsam voran

Die meisten der 1,9 Millionen Bewohner von Gaza haben den 40 Kilometer langen Küstenstreifen, in dem sie leben, noch nie verlassen. Der schmale Landstrich an der Mittelmeerküste liegt zwischen Israel und Ägypten und ist an drei Seiten eingezäunt. Kaum jemand darf die Grenze passieren. Vor genau zehn Jahren verhängte Israel eine Blockade über den Gazastreifen und reglementiert seither den gesamten Warenund Personenverkehr. Nach Israel darf nur ausreisen, wer eine Sondergenehmigung hat. Mit jedem Attentat in Jerusalem oder Tel Aviv werden weniger davon ausgestellt.

Der einzige Grenzübergang zu Ägypten im Süden ist nur wenige Tage im Jahr geöffnet. Im September 2014 hatte Hani Alreqeb Glück. Mit seiner abgelaufenen libyschen Arbeitserlaubnis ließ man ihn über die Grenze. Er durchquerte Ägypten und landete in den Wirren des libyschen Bürgerkrieges. Lange Narben an seinen Händen und Unterarmen zeugen von einem brutalen Raubüberfall. Danach wollte er zurück nach Hause, zu seiner Familie. Doch die Grenze zwischen Ägypten und Gaza war wieder geschlossen. Für Alreqeb gab es kein Zurück.

»Ich musste versuchen, nach Europa zu kommen. Und meine Familie so schnell wie möglich nachzuholen.«

"Ich musste versuchen, nach Europa zu kommen. Und meine Familie so schnell wie möglich nachzuholen", sagt Alreqeb. Besonders um seine Söhne machte er sich Sorgen. Mit der Blockade schwindet in Gaza der Einfluss von außen. Der Druck im Inneren jedoch steigt. Neben verblassten Plakaten für Brautkleider und Schokoriegel wird auch etwas anderes beworben: der Märtyrertod. Heldenhafte Porträts auf Reklametafeln und Hauswänden feiern junge Männer, die als Selbstmordattentäter oder durch israelische Kugeln gestorben sind. Alle paar hundert Meter ruft die radikalislamische Hamas, die seit 2007 in Gaza regiert, auf martialischen Postern zum Kriegszug nach Jerusalem auf. "Das ist doch kein Ort für Kinder", meint Alreqeb.

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© Veronika Dolna An der Grenze zu Israel warnt ein Plakat: "Schütze deine Heimat." Ausreisen darf man nur mit Sondergenehmigung

Er dachte an seine Kinder, als er im November 2014 in Libyen ein Boot Richtung Italien bestieg. Mit dem Kreuzfahrtschiff, das er seiner Frau gezeigt hatte, hatte es nichts zu tun. Vier Tage und drei Nächte dauerte die Fahrt über das stürmische Herbstmeer.

Hani Alreqeb war ein Bootsflüchtling, als Europa über die Rettungsaktion Mare Nostrum diskutierte. Er campierte auf dem Mailänder Zentralbahnhof, als der als Drehscheibe für Ankommende in die Schlagzeilen kam. Kurz vor Weihnachten kam er in Traiskirchen an. Nun war Alreqeb Asylwerber in Österreich.

Ein Flüchtling war er schon sein ganzes Leben lang gewesen. Seit seine Eltern im Krieg von 1948 ihre Heimat in Jaffa, 70 Kilometer nördlich von Gaza, verlassen mussten, gelten sie und alle Nachkommen offiziell als palästinensische Flüchtlinge. 1,3 Millionen Menschen in Gaza haben denselben Status. Sie haben keinen Pass, sondern einen Ausweis des UN-Hilfswerks UNRWA. Die Organisation versucht, die Aufgaben zu erfüllen, die anderswo der Staat übernimmt: Gesundheitsversorgung, Schulen, Sozialhilfe. 900.000 Menschen bekommen regelmäßig Lebensmittelpakete. Auch Alreqebs Familie könnte ohne diese Unterstützung nicht überleben. Doch aus Österreich, versprach er seiner Frau, würde er sehr bald Geld schicken können.

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© Veronika Dolna

Im März 2015 übersiedelte Alreqeb in ein Asylquartier im oberösterreichischen Ternberg. In Gaza-Stadt baute die Hamas in der Mitte eines Kreisverkehrs die Skulptur einer Kassam-Rakete -in Ternberg ist die größte Attraktion eine Plastik des "größten Taschenfeitls der Welt". Hier, zwischen der Enns, den Bergen und vergleichsweise harmlosen Waffen wie Taschenmessern, fühlte Alreqeb sich sicher.

Alltag in Ternberg

In Gaza hatte Hani Alreqeb als Maurer gearbeitet, auch in Österreich wollte er so Geld verdienen. Als er beim Spazierengehen an einer Baustelle vorbeikam, bot er an, die Mauer zu verputzen. Er würde für sehr wenig Geld arbeiten und auch gerne unterschreiben, dass er die volle Verantwortung übernehmen würde. Doch die Bauarbeiter sagten ihm, er brauche eine Arbeitserlaubnis. "Sie sagten, das heißt sonst 'Schwarzarbeit' und ist verboten", erzählt Alreqeb. Geld konnte er seiner Familie keines schicken.

Für diese wurde die Lage in Gaza unterdessen immer schwieriger. Die Arbeitslosigkeit liegt dort bei 45 Prozent. Niemand aus der Großfamilie hatte Geld übrig, um Alreqebs Frau Sherin zu unterstützen. Die Miete für die Wohnung, in der Sherin mit den vier Kindern wohnte, konnte sie bald nicht mehr bezahlen. Auch das Leben rund um sie veränderte sich. Immer mehr Frauen trugen Vollverschleierung, um die Sittenpolizei der Hamas nicht zu provozieren.

Alle zwei Tage rief Hani Alreqeb seine Frau aus Ternberg an. Als der Frühling Sommer wurde, bekam er Wanderschuhe geschenkt, die ihm perfekt passten. Doch er hatte immer noch keine Einladung zu einem Erstgespräch für sein Asylverfahren erhalten und konnte immer noch kein Geld nach Hause schicken. Dazu kamen immer mehr Menschen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak in Österreich an, die ebenfalls um Asyl ansuchten. Im Herbst 2015 wurde Alreqeb deshalb unruhig. Ein Jahr war vergangen, seit er seine Familie verlassen hatte. Nach seiner Rechnung hätten seine Frau und seine Kinder schon längst bei ihm in Österreich sein sollen. Doch sie saßen in Gaza fest, hatten kein Geld, und der Vermieter drohte mit Delogierung. Deshalb beschloss Hani Alreqeb, nach Hause zurückzukehren.

Doch nach Gaza einzureisen ist fast genauso schwierig wie herauszukommen. Auch auf inoffiziellen Wegen ist das nahezu unmöglich. Außerdem hatte Alreqeb kein Geld, um überhaupt in die Nähe zu reisen. Die Rückkehrhilfe der Caritas organisierte ihm ein Transitvisum für Ägypten und ein Flugticket nach Kairo. Im Februar 2016 verließ Alreqeb Österreich nach vierzehn Monaten, ohne ein Erstgespräch für sein Asylverfahren gehabt zu haben.

Nur einen Tag später kam er wieder in Wien an. In Ägypten wollte man ihn nicht einreisen lassen, weil man Angst hatte, er würde im Land bleiben. Von Kairo wurde er nach Wien abgeschoben. Es folgten Tage der Verzweiflung: "Ich konnte nicht vor und nicht zurück. Ich konnte meine Familie nicht holen und nicht zu ihr. Ich konnte nicht nach Hause und nirgendwo bleiben."

Im Internet fand er die Information, dass der Grenzübergang im Süden Gazas für ein Wochenende ausnahmsweise geöffnet würde. Es war ein kleines Zeitfenster und seine einzige Chance. Wieder flog er nach Kairo, diesmal durfte er den Flughafen verlassen. Er erwischte noch am selben Abend einen Bus Richtung Grenze. Kurz bevor sie wieder geschlossen wurde, überschritt er sie zu Fuß. Auf der anderen Seite wartete Sherin mit den Kindern. "Ich war überglücklich", sagt Alreqeb.

Zu Hause in Gaza

Dabei ist die Situation noch schwieriger als damals, als er Gaza verließ: "Ich hätte nie gedacht, dass es sich so schlimm entwickelt. Die Gesellschaft ist klinisch tot", sagt er und nimmt den letzten Schluck von seinem Kaffee mit Kardamom. In Gaza, heißt es, gibt es vier Jahreszeiten: Herbst, Winter, Frühling, Krieg. "Bald kommt wieder die Kriegssaison", sagt Alreqeb. Wenn es so weit ist, wird er mit seiner Familie wieder in ein Massenlager in einer Schule übersiedeln. Und hoffen, dass sie alle überleben.

Als die Dämmerung einsetzt, leert sich das Kaffeehaus schnell, auch Alreqeb beeilt sich nach Hause: "Sicher ist sicher", sagt er. Vier Monate ist er nun wieder zurück in Gaza. Er hat gute Bergschuhe und 4000 Euro Schulden. "Aber ich bin bei meiner Familie. Ich möchte nicht, dass meine Kinder in dieser kaputten Gesellschaft ohne Vater aufwachsen müssen."

Es gibt viele Gründe, Gaza zu verlassen. Für Hani Alreqeb hat ein einziger gereicht, um zurückzukommen.

FAKTEN ZU GAZA

1,9 Millionen Menschen leben im Gazastreifen. 1,3 Millionen davon sind registrierte palästinensische Flüchtlinge.

Im Juni 2006 verhängte Israel eine Blockade gegen Gaza. Seither wird der gesamte Waren-und Personenverkehr von Israel reglementiert. Israel kontrolliert die Außengrenzen im Norden und Osten sowie das Mittelmeer im Westen. Auch die Grenze zu Ägypten ist geschlossen. Der Küstenstreifen, dessen Fläche kleiner ist als Wien, ist an drei Seiten eingezäunt.

Formal wird Gaza von der palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet. Seit 2007 regiert in Gaza die islamistische Terror-Organisation Hamas.

Der letzte Gazakrieg im Sommer 2014 dauerte 50 Tage. In dieser Zeit wurden 500.000 Menschen obdachlos und 11.000 verletzt. 2139 Palästinenser starben, darunter etwa 1500 Zivilisten. Rund 150.000 Häuser wurden während des Kriegs beschädigt, 12.600 komplett zerstört.

Seit Beginn der Blockade ist die lokale Wirtschaft in Gaza beinahe vollständig zum Erliegen gekommen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 45 Prozent, bei Jugendlichen sogar bei 67 Prozent. Die einzigen relevanten Arbeitgeber sind die Regierung und das UN-Hilfswerk UNRWA. Jeder zweite Bewohner ist von Nahrungspaketen abhängig.

Kommentare

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Europa muss allen Christen aus dieser Region grosszügig Asyl gewähren und sie aufnehmen. Als Ausgleich dafür schiebt man für jeden aufgenommenen Christen einen in Europa kriminell gewordenen oder von der Sozialhilfe abhängigen Muslim in sein Herkunftsland ab. Das würde die hiesigen Sozialsysteme enorm entlasten.

strizzi1949
strizzi1949 melden

Warum nur Christen? Allen Palästinensern sollte man Asyl gewähren! Aber rasch und nicht so, wie Hani Alreqeb! Diese Vorgehensweise ist eine Frechheit! Die Asylverfahren gehören raschest abgewickelt und wenn zu wenig Personal da ist, dann sollen sie welches einstellen! Alles Andere sind blöde Ausreden! Wo ein Wille ist, da gehen die Asylverfahren auch schneller!

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