Wir sind da!

Die Flüchtlingskrise hat sich lange angekündigt: Eine Chronologie des Wegschauens

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Als erstes kommen die jungen Männer. Sie gehen schnell, mit großen Schritten. Dann kommen Männer mit Frauen, händchenhaltend, mit starrem Blick auf den Grenzübergang. Hinter ihnen kommen die ersten Familien mit Babys, so klein, dass ihre Eltern sie tragen und trotzdem noch zügig gehen können. Erst dahinter dann die Familien mit Kleinkindern, die selber laufen und daher bremsen. Zum Schluss kommen die großen Familien. Sie gehen langsam, denn sie haben auch ihre älteren Angehörigen dabei. Es ist ein Dienstag im September, und gerade ist wieder ein Zug mit Hunderten Flüchtlingen im ungarischen Hegyeshalom angekommen, an der Grenze zu Österreich. Von dort brauchen die Schnellsten eine dreiviertel Stunde zum Grenzübergang. Eine halbe Stunde später kommen die letzten an.

Bilder wie diese hat Österreich im Herbst in Nickelsdorf kennen gelernt. Nun wiederholen sie sich schon seit Monaten, und das Land ist überwältigt. Davor konnte sich niemand vorstellen, dass jeden Tag mehrere tausend Flüchtlinge in Österreich ankommen würden. Die Menschen kommen plötzlich, aber nicht überraschend. Denn die Flüchtlingsbewegung hat sich lange angekündigt. Was in Nickelsdorf, Spielfeld, Heiligenkreuz oder Freilassing passiert, passiert auch in Griechenland und Italien, und das seit vielen Jahren. Ein Blick in die Archive zeigt: Die Bilder waren da. Die Hilferufe auch. Doch Österreich und andere europäische Länder entschieden sich lange, weder hinzuschauen noch hinzuhören.

In Nickelsdorf steht plötzlich ein 13-jähriger Bub aus Syrien. Er weint nicht nur, er heult. Er hat seine Familie während der Flucht verloren und hat nun panische Angst, alleine in diesem fremden Land zu bleiben. "Bitte gebt mir ein Handy, damit ich meine Tante in Deutschland anrufen kann“, fleht er. Sessilia, eine freiwillige Helferin, gibt dem Buben ihr Telefon. Sie spendet ihm Trost und sagt, dass schon irgendwie alles wieder gut werden wird.

Seit 2010 sind weltweit mindestens 15 neue Konflikte ausgebrochen oder wieder aufgeflammt, nur wenige Krisen konnten seither beigelegt werden. 60 Millionen Menschen sind auf der Flucht, nur ein Bruchteil davon kommt nach Europa. Länder an den Außengrenzen, wie Griechenland und Italien, spüren die Flüchtlingsbewegungen als erstes. Sie sind schon 2011 mit der Betreuung der Ankommenden überfordert. Bereits im Februar 2011 ruft Italien wegen der vielen Flüchtlinge den humanitären Notstand aus. Damals kommen sie vor allem aus Libyen. Schon einen Monat später gehen dann in Syrien die ersten Demonstranten gegen die Regierung auf die Straße. Ein Funke, der zum Flächenbrand wird. Im Bürgerkrieg sterben bis zum Jahresende 5.000 Menschen.

Österreich reagiert zu diesem Zeitpunkt zurückhaltend. Als die EU-Innenkommissarin Cecila Malmström bittet, Flüchtlinge aus Italien, Griechenland oder Malta aufzunehmen, antwortet die damalige Innenministerin Maria Fekter: "Das hätte einen enormen Staubsaugereffekt. Wir würden dem ganzen afrikanischen Kontinent signalisieren, man braucht nur nach Italien zu kommen und wird dann auf Europa aufgeteilt.“ Österreich kürzt 2011 die Entwicklungshilfe im Vergleich zum Vorjahr um 8,2 Millionen Euro.

Im Jahr 2012 eskaliert die Gewalt in Syrien. Die Uno und die NGO Human Rights Watch dokumentieren Massenerschießungen, Folter und Hinrichtungen - sowohl vom Assad-Regime, als auch von Rebellen. Immer mehr militante Islamisten aus dem Ausland kämpfen im Land. Schon 400.000 Syrer sind zu Flüchtlingen geworden. In Nachbarländern wie der Türkei, Jordanien und dem Libanon wachsen die Zeltstädte.

Die Uno bittet die Staatengemeinschaft um 488 Millionen Euro, um die Vertriebenen versorgen zu können. Sie bekommen nicht einmal ein Drittel der Summe.

In Griechenland leben damals bei 11,5 Millionen Einwohnern schon mehr als eine Million Vertriebene. Die Regierung klagt, dass die Situation nicht zu bewältigen sei. An der Grenze zur Türkei baut Griechenland deshalb einen Zaun. Im österreichischen Innenministerium hält man unterdessen ein drittes Aufnahmezentrum für Flüchtlinge neben Traiskirchen und Thalham nicht für notwendig.

Österreich kürzt 2012 die Entwicklungshilfe im Vergleich zum Vorjahr um 11,7 Millionen Euro.

Im Jahr 2013 gibt es bereits 70.000 Tote in Syrien, 900.000 Menschen sind in die Nachbarländer geflohen. Im August kommt es zu Giftgaseinsätzen gegen die Zivilbevölkerung. Mehr Geld für Flüchtlinge gibt es aber auch jetzt nicht. Stattdessen setzen sich Frankreich und Großbritannien in der EU dafür ein, Waffen an syrische Rebellen zu schicken. Die USA verdoppeln ihre militärische Unterstützung für Rebellengruppen auf 250 Millionen Dollar. In Europa spüren nach wie vor hauptsächlich die Länder an den Außengrenzen die wachsenden Fluchtbewegungen. Die bulgarische Grenzpolizei meldet bis zu 100 Syrer pro Tag. Im ersten halben Jahr landen zudem 8.400 Flüchtlinge an den Küsten Italiens und Maltas. Die griechische Küstenwache greift im selben Zeitraum mehr als 7.000 Syrer, Afghanen und Iraker in der Ägäis auf.

Es sind deshalb wieder die südöstlichen EU-Staaten Italien, Griechenland und Malta, die immer lauter darauf pochen, die Ankommenden gleichmäßiger in Europa zu verteilen. Die österreichische und die deutsche Regierung lehnen - anders als heute - eine Quote aber ab. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner sagt damals: "Österreich ist nicht in der Pflicht, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.“

Im Oktober 2013 sterben vor der italienischen Insel Lampedusa bei einem einzigen Unglück mehr als 360 Menschen. Einen Monat später wird in Österreich eine neue Regierung angelobt. Die UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Uno, gibt ihr Vorschläge zur Flüchtlingspolitik mit auf den Weg. Darunter: Österreich soll die Westbalkanländer beim Aufbau funktionierender Asylsysteme unterstützen. Dort rechnet man mit zunehmenden Flüchtlingsströmen. Eineinhalb Jahre später schickt Innenministerin Mikl-Leitner 15 Polizisten und zwei Wärmebildkameras zur Schlepperbekämpfung nach Serbien. Heute hat Serbien nicht die Mittel, um Flüchtlinge auf Dauer zu versorgen, und winkt sie daher weiter. "Wir sind ein armes Land. In Deutschland und Österreich können sie mehr verdienen“, sagt Premierminister Aleksandar Vucic.

Österreich kürzt 2013 die Entwicklungshilfe im Vergleich zum Vorjahr um 13,8 Millionen Euro.

"Ist das schon Österreich?“, fragt Mustafa. Der 21-Jährige Iraker ist eben erst in Nickelsdorf angekommen und will, wie die meisten Flüchtlinge, nach Deutschland. "Müssen wir hier übernachten? Wie geht es weiter?“, möchte er wissen. Er hat zwei Möglichkeiten. Entweder er steigt in eines der vielen Taxis und fährt nach Wien, und von dort mit dem Zug an die deutsche Grenze. Oder er lässt sich mit den bereitgestellten Bussen in eine der Notunterkünfte bringen. Mustafa überlegt. Er möchte sich erst einmal ausruhen.

Im Jahr 2014 haben bereits 3,2 Millionen Syrer ihr Land verlassen. Sie fliehen vor Assads Fassbomben und einer neuen radikal-islamistischen Terrorgruppe, die in Syrien immer mehr Gebiete erobert: dem sogenannten Islamischen Staat (IS). 160.000 Menschen flüchten im September innerhalb einer Woche vor dem IS aus der Grenzstadt Kobane in die Türkei. Die Terrormiliz breitet sich auch im angrenzenden Irak aus und tötet im Lauf des Jahres mindestens 17.000 Zivilisten. 1,1 Millionen Iraker müssen ihren Wohnort verlassen. Die Türkei hat Ende 2014 über eine Million Flüchtlinge aufgenommen, ebenso viele sind im Libanon untergekommen. Bulgarien baut unterdessen einen Zaun an der Grenze zur Türkei, der 160 Kilometer lang werden soll.

Im Dezember 2014 veröffentlicht die Uno den größten Hilfsappell ihrer Geschichte. Das Welternährungsprogramm könne seine Hilfe in Syrien und der Region nur mehr wenige Wochen finanzieren. Die Uno bitten die Staatengemeinschaft um 7,7 Milliarden Euro. Es kommen nicht einmal 3,5 Milliarden zusammen, weniger als die Hälfte.

In Österreich sind unterdessen 1.400 Menschen in Traiskirchen untergebracht. "Wir haben eine dramatische Situation“, sagt Innenministerin Mikl-Leitner. Es wird ein Aufnahmestopp über das Erstaufnahmezentrum verhängt. Durch die neue Situation ist nun auch die österreichische Regierung für eine europäische Quote. "Es gibt eine große Schieflage in Europa“, sagt Mikl-Leitner.

Fünf Millionen Euro stellt Österreich jährlich für Katastrophenhilfe im Ausland zur Verfügung. Die Schweiz gibt dafür 300 Millionen aus. Weil sich die Lage im Nahen Osten zuspitzt, appellieren Österreichs Hilfsorganisationen geschlossen an die Regierung, den Hilfsfonds zu erhöhen. Bis heute ist das nicht passiert.

Im Gegenteil: Österreich reduziert 2014 die Zahlungen an die UNHCR von 4,4 Millionen auf nunmehr 1,35 Millionen Euro. Außerdem kürzt Österreich seine Entwicklungshilfe erneut um 13,8 Millionen Euro.

Nach vier Jahren Bürgerkrieg in Syrien verschlimmert sich die Lage auch heuer. Die Lebenserwartung ist seit Kriegsbeginn von 75,9 auf 55,7 Jahre gesunken. Immer noch sterben Menschen durch Giftgasangriffe, dazu wütet der IS. Im Juni 2015 fliehen 100.000 Bewohner aus der nordsyrischen Stadt Hassakeh, 140.000 werden aus Idlib vertrieben. Die Rekrutierung syrischer Kinder ist zum Alltag geworden.

Insgesamt zwölf Millionen Syrer mussten seit Kriegsbeginn ihr Zuhause verlassen. Acht Millionen flohen innerhalb der Landesgrenzen, vier Millionen haben Syrien verlassen. Der für humanitäre Hilfe zuständige EU-Kommissar Christos Stylianides sagt: "Die Katastrophe in Syrien ist die größte seit dem Zweiten Weltkrieg.“ Auch im angrenzenden Irak sind drei Millionen Menschen auf der Flucht.

Weil das Welternährungsprogramm massiv unterfinanziert ist, muss es im Sommer 2015 die Essensgutscheine für syrische Flüchtlinge im In- und Ausland kürzen. Im Libanon und in Jordanien fehlen 81 Prozent der Gelder. "Gerade als wir dachen, schlimmer kann es nicht mehr kommen, müssen wir unsere Hilfe weiter einschränken“, sagt Muhannad Hadi, der zuständige Regionaldirektor: "Die Flüchtlinge wissen jetzt schon kaum, wie sie mit den bereits gekürzten Rationen überleben sollen“

Freitagabend sieht der freiwillige Helfer Martin Prohaska in Nickelsdorf ein fünfjähriges Mädchen mit Suppentassen in ihren Händen. Sie ist alleine und kann ihre Eltern nicht mehr finden. Er holt einen Dolmetscher. So erfährt er, dass Mama und Papa in der Schlange für die Busse warten. Wer aus Nickelsdorf in eine Notunterkunft gebracht werden will, muss stundenlang auf Busse warten. Zur Essensausgabe kann man dann nicht mehr, denn sonst muss man sich wieder hinten anstellen. Eltern schicken daher oft ihre Kinder. Manchmal finden die Kleinen den Weg zurück nicht mehr.

Die aussichtslose Situation in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer bringt viele dazu, weiter nach Europa zu ziehen. Im April 2015 kentert ein überfülltes Flüchtlingsschiff vor der libyschen Küste. Rund 800 Menschen kommen ums Leben. Europa ist über das bisher schlimmste Bootsunglück im Mittelmeer schockiert.

Die österreichische Regierung kündigt daraufhin an, die Entwicklungshilfe ab 2016 stufenweise aufzustocken. Bundeskanzler Werner Faymann und sein Vize Reinhold Mitterlehner versprechen, bis zum Sommer einen konkreten Plan vorzulegen.

In Brüssel beschließt die Europäische Kommission eine Migrationsagenda. Darin ist zum ersten Mal von "Hotspots“ die Rede. In Italien und Griechenland sollen Registrierzentren für Flüchtlinge entstehen. Von dort aus sollen sie nach einer fixen Quote in den EU-Ländern verteilt werden.

Wenige Wochen später scheitert diese Idee aber bei einem Gipfel der Staats- und Regierungschefs. Großbritannien, Irland und Dänemark weigern sich, zugeteilte Kontingente zu übernehmen. Auch Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei sind vehement dagegen. "Was hat die Slowakei mit dem zu tun, was in Libyen, dem Irak oder Syrien passiert ist? Gar nichts“, sagt der slowakische Premier Robert Fico. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi ist empört: "Wenn das eure Idee von Europa ist, könnt ihr es behalten. Ohne Solidarität verschwendet ihr unsere Zeit.“

Bis Juni sind 2015 in Griechenland sechs Mal so viele Flüchtlinge angekommen wie im Vorjahr. Täglich kommen zu den Flüchtlingen, die schon da sind, 1.000 neue dazu, die auf den Inseln vor der türkischen Küste stranden. Nach den Tragödien im Mittelmeer ändern sich nun die Fluchtrouten: Mehr und mehr Vertriebene versuchen, Mitteleuropa über den Landweg zu erreichen. Von Griechenland ziehen sie weiter nach Mazedonien. Dort treffen im August jeden Tag mindestens 2.000 Flüchtlinge ein. Die Regierung verhängt den Ausnahmezustand und lässt sie weiter nach Serbien reisen.

Von dort versuchen viele Flüchtlinge Ungarn zu erreichen. Seit Juni wird dort an einem vier Meter hohen Grenzzaun gebaut. Weil es keine legalen Wege nach Österreich oder Deutschland gibt, bezahlen die meisten Flüchtlinge Schlepper. Das taten auch die 71 Menschen, die am 27. August tot in einem Kühltransporter auf der A4 gefunden sind. An diesem Tag ist die Tragödie in Österreich angekommen. Plötzlich, aber nicht überraschend.

Kurz darauf erlauben Ungarn, Österreich und Deutschland Flüchtlingen erstmals, mit dem Zug zu reisen. Allein in München kommen so in den ersten beiden Septemberwochen 63.000 Vertriebene an. Österreich und Deutschland sind auf die Menschenmassen nicht vorbereitet. Der Zugverkehr wird wieder eingestellt, stattdessen gibt es Grenzkontrollen.

Die ungarischen Züge fahren nur mehr nach Hegyeshalom. Von dort gehen die Menschen zu Fuß nach Nickelsdorf. Die allermeisten wollen nach Deutschland. Die Szenen aus Nickelsdorf wiederholen sich auch an anderen Grenzübergängen: in Heiligenkreuz, Freilassing, und später vor allem in Spielfeld.

"Die Flüchtlingsfrage ist eine gesamteuropäische Herausforderung, die nicht nur einzelne Länder etwas angeht“, sagt Werner Faymann. "Die Zeit drängt. Wir können nicht bis Mitte Oktober warten“, sagt Angela Merkel. Und außerdem sagt sie weiterhin: „Wir schaffen das!“

Kommentare

Immer wieder erstaunlich die Selbstverständlichkeit, mit der diese angeblichen Flüchtlinge Aufnahme in Europa fordern. Und sich aussuchen, wo sie leben wollen. Nicht ein Gedanke daran, wer ihr Leben hier finanziert.

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