Endlich mehr Ball als Ballhausplatz

Warum Österreich jetzt erst recht ein Sommermärchen braucht

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Fakten - Endlich mehr Ball als Ballhausplatz © Bild: News

Der Präsidentschaftswahlkampf steckt uns noch in den Knochen. Das Land ist gespalten. Zumindest vertritt das halbe Land in grundlegenden Fragen die gegenteilige Meinung der anderen Hälfte. Und der neue Bundeskanzler Christian Kern, ein neuer Polit-Messias oder doch „more of the same“? Flüchtlinge, Arbeitslosigkeit: Da interessiert die Fußball-EM doch – genau: alle! Endlich Zeit, durchzuatmen. Endlich mehr Ball als Ballhausplatz. Diese kleine Pause haben wir uns verdient. AUT vs. ISL statt NoHo vs. VdB.

Es ist natürlich nur Fußball. Aber ein erfolgreiches Abschneiden des österreichischen Teams würde die Stimmung im Land verbessern, zumindest kurzfristig. Und genau das braucht es jetzt: ein Erfolgserlebnis. Einen Grund, stolz zu sein. Eine Pause
vom Matschkern, Sudern und Sichzu-Tode-Fürchten.

»Erfolg macht großmütig. Wenn wir wer sind, können wir auch andere gelten lassen.«

Österreichs Sieg beim Song Contest vor zwei Jahren ging in die richtige Richtung, aber für den großen Teil der Bevölkerung war es dann doch irrelevant. Eine starke Performance bei der EM in der Weltsportart Fußball könnte hingegen gerade in die von diversen Ängsten geplagten Bevölkerungsgruppen hineinstrahlen. Denn Erfolg macht großmütig. Wenn wir wer sind, können wir auch andere gelten lassen. Wenn wir uns etwas zutrauen, können wir auch etwas schaffen. Wenn das Nationalteam vorzeigt, was mit bescheidenen Mitteln und einer geradlinigen Strategie möglich ist, kann aus der Hochburg der hängenden Köpfe rasch ein Ort der Optimisten werden. Wir schaffen das, alles ist möglich! Nicht nur auf dem großen Fußballfeld, sondern auch im eigenen kleinen Schrebergarten, in dem das Glas in den letzten Jahren zu oft halb leer schien, zu selten halb voll.

Das war in Deutschland ähnlich, vor etwa zehn Jahren. „Warum Österreich Spitze ist“, titelte das Hamburger Magazin „Stern“ damals, weil unsere Wirtschaftsdaten besser waren als die deutschen. Und dann kam die WM 2006, das Sommermärchen, über das Franz Beckenbauer sagte: „Es hat alles gepasst. Bei den Fanfesten haben unterschiedliche Rassen, Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Religionen nebeneinandergestanden. So stellt sich der liebe Gott die Welt vor, auch wenn wir in der Realität noch 100.000 Jahre davon entfernt sind.“ Abgesehen davon, dass bei der WM-Vergabe nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist: Die Welt nahm Notiz von den fröhlichen, freundlichen, friedlichen Deutschen – und von deren Fußballern, die mit beherztem Auftritt und sympathischem Selbstbewusstsein ihrem Land erst recht den richtigen Stimmungskick gaben (am Ende stand Platz drei).

Zwei große K bewegen derzeit Österreich: Kern und Koller. Ersterer muss noch beweisen, dass er’s wirklich kann. Letzterer hat das bereits getan, indem er aus Individualisten ein Team geformt hat. Mit Konsequenz, harter Arbeit und Visionen. Ganz nüchtern. Als „Perfektionist mit einem manischen Verhältnis zum Detail“, wie Hubert Patterer ab Seite 34 dieses Heftes ausführt. Fehleranalyse, Fehlerbehebung. Keine Ausreden. Kein Auftritt nach dem Motto „Jeder Stuss ein Treffer“. Auch darin weist der kleine Fußball über sich hinaus: Lernen wir daraus, dass man auch gegen Widerstände erfolgreich sein. Dass scheinbar Unmögliches möglich werden kann. Und wie man Niederlagen hinnimmt: Wenn es nichts wird in Frankreich? Fehleranalyse, Fehlerbehebung. Nächstes Ziel: die WM in Russland 2018.

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