Gute Zeiten, schlechte Zeiten

Wachstums-, Budget- und Migrationskrise - scheitert Europa an diesem Härtetest?

von Harald Katzmair © Bild: NEWS/Ian Ehm

Die wahre Qualität einer Beziehung offenbart sich bekanntlich nicht, wenn die Sonne scheint, sondern wenn es stürmisch wird. Erst in schweren Zeiten zeigt sich, wer ein wahrer Freund ist. Unter dem Druck von Wachstums-, Budget- und Migrationskrise ist Europa gerade dabei, an diesem Härtetest zu scheitern. An zwei Bruchlinien zerfällt das europäische Beziehungsgebäude: einerseits zwischen den exportorientierten Ländern des Nordens und den auf lokalere Märkte konzentrierten Ländern des Südens. Und andererseits zwischen den seit 1945 ethnisch einheitlicheren Ländern des Ostens und den durch Migration vielfältigeren Ländern des Südens und Westens. Die vertraglichen Grundwerte, die uns Europäern gerade in Zeiten der Krise Halt geben sollten, erweisen sich als abstrakte Schönwetterfloskeln.

Im Artikel 2 des EU-Vertrags heißt es: "Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet." Die guten Zeiten decken Fehler zu, die schlechten bringen sie zum Vorschein. Die Flüchtlingskrise zeigt, dass viele der europäischen Grundwerte zu leeren Hülsen und Pappkartonkulissen für ergebnislose Treffen der Regierungschefs verkommen. Nur wenige nehmen sie wirklich ernst.

Heute können wir uns nicht länger vor der Tatsache verstecken, dass viele unserer Grundwerte einer gänzlichen neuen Auseinandersetzung bedürfen. Es wird dabei nicht mit Brüsseler Standardisierungsversuchen von Europa getan sein. Vielmehr müssen wir die Spannungen zwischen den Werten und Idealen als Ressource verstehen – denn es zwingt die Diskutanten, ihre eigenen Grundsätze lebendig zu halten. Wir alle sind aufgerufen, die leeren europäischen Worthülsen wieder mit Inspiration, Bedeutung und Leben zu füllen.

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