Europa steuerte über
Jahre auf den Krieg zu

Bereits zuvor stand der Kontinent mehrmals kurz vor einem militärischen Konflikt

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Erster Weltkrieg - Europa steuerte über
Jahre auf den Krieg zu

Alle europäischen Mächte seien im Jahr 1914 auf Krieg eingestellt gewesen, betonte der Historiker Manfred Rauchensteiner im APA-Gespräch. "Es wäre dann eben nicht dieser Krieg, sondern ein anderer gewesen." Ähnlich äußerte sich auch der deutsche Weltkriegsexperte Gerhard Hirschfeld. "Man kann nicht sagen, dass es nicht zu einem Weltkrieg gekommen wäre, vermutlich wäre er aber anders geführt worden."

Als die Schüsse von Sarajevo fielen, waren die europäischen Mächte schon mehrmals innerhalb weniger Jahre an einem Krieg vorbeigeschrammt. In nur zwei Jahrzehnten war an die Stelle der gegenseitigen Verflechtung der Großmächte eine verhängnisvolle Blockbildung getreten, mit Großbritannien, Frankreich und Russland auf der einen Seite und den "Mittelmächten" Deutschland und Österreich-Ungarn auf der anderen.

Deutsche Bedrohung

Die Entente-Mächte nahmen das wirtschaftlich aufstrebende und politisch selbstbewusste Deutsche Reich immer mehr als Bedrohung wahr. Je mehr sie zusammenrückten, umso stärker fühlte sich Berlin "eingekreist" und bedroht.

Angestoßen wurde diese verhängnisvolle Spirale durch das Deutsche Reich selbst. Im Jahr 1891 ließ Berlin den erst vier Jahre davor mit St. Petersburg geschlossenen geheimen "Rückversicherungsvertrag" auslaufen, der die beiden Mächte zu Neutralität in Konflikten des jeweils anderen verpflichtete. Russland ging daraufhin im Jahr 1894 ein Bündnis mit Frankreich ein. Dieses Bündnis wurde durch Verträge in den Jahren 1904 und 1907 um Großbritannien erweitert.

Einigung London-Paris-Moskau

Mit der "Entente Cordiale im Jahr 1904 begruben London und Paris ihre Streitigkeiten um Kolonien in Nordafrika. Die Franzosen erkannten den britischen Anspruch auf Ägypten an und erhielten zugleich freie Hand in Marokko. Das Deutsche Reich versuchte dies zu verhindern, und Kaiser Wilhelm II. reiste im März 1905 demonstrativ in die Stadt Tanger, um ihren Charakter als freie Stadt zu stärken. Damit erzwang Berlin eine internationale Marokko-Konferenz im April 1906, mit der den französischen Ambitionen Einhalt geboten werden sollte. Entgegen den Erwartungen war Berlin dort aber völlig isoliert, lediglich Österreich-Ungarn unterstützte die deutschen Forderungen in Hinblick auf eine Souveränität Marokkos.

1907 folgte ein weiterer Schritt in der Polarisierung des europäischen Bündnissystems, durch den britisch-russischen Vertrag von St. Petersburg wurde die Entente zur "Triple Entente". St. Petersburg und London begruben ihre Kolonialstreitigkeiten in Asien, um sich vereint einer möglichen Herausforderung durch Deutschland in der Region stellen zu können.

Die Polarisierung des Bündnissystems in Entente (Großbritannien, Frankreich, Russland) und Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien) war laut dem australischen Historiker "eine entscheidende Voraussetzung für den Krieg, der 1914 ausbrach". Ohne diese Strukturen wäre es nämlich "unvorstellbar" gewesen, dass die österreichisch-serbische Krise nach dem Sarajevo-Attentat einen gesamteuropäischen Krieg ausgelöst hätte.

Regionale Krisen ebneten den Weg

Freilich bedurfte es noch mehrerer regionaler Krisen und Kriege, damit Europa an den Rand des großen Konfliktes geriet. Die Schauplätze waren der Balkan und Marokko. Ende 1908 kommt es zur Annexionskrise. Österreich-Ungarn stellt sich mit der Annexion der osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina gegen die anderen Mächte auf dem Kontinent. Erst die Drohung Deutschlands, Österreich-Ungarn bei einem Angriff zur Seite zu stehen, zwangen Russland und Serbien zum Nachgeben.

Im Jahr 1911 kommt es zur zweiten Marokko-Krise. Aus Protest gegen den Einmarsch französischer Truppen schickt Berlin am 1. Juli demonstrativ das Kanonenboot "Panther" an Agadir. Diese Krise wurde im November 1911 durch das Marokko-Kongo-Abkommen beigelegt, in dem Berlin einen Teil des französischen Kongo erhielt. Berlin lenkte damals auch unter dem Eindruck von Anti-Kriegs-Demonstrationen im eigenen Land ein.

Balkan entzündete Europa

Die Balkankriege der Jahre 1912 und 1913 bereiteten dann endgültig den Boden für den "Großen Krieg". Im Ersten Balkankrieg zwischen Oktober 1912 und März 1913 vertrieben die Staaten des Balkanbundes (Bulgarien, Serbien, Montenegro und Griechenland) das Osmanische Reich von der Balkanhalbinsel. Der Streit über die Aufteilung von Mazedonien löste Ende Juni 1913 den Zweiten Balkankrieg aus, in dem Bulgarien seine Zugewinne an Griechenland und Serbien abtreten musste.

Durch die Balkankriege hatte sich das russisch unterstützte Serbien, das sein Staatsgebiet verdoppelt hatte, zum gefährlichen Gegenspieler Österreich-Ungarns auf dem Balkan aufgeschwungen. Zugleich zeigte sich, dass neben Berlin auch Wien innerhalb Europas völlig isoliert war. Die beiden europäischen Bündnisse hatten sich weiter verfestigt, ergänzt um ein Gefühl der existenziellen Bedrohung in der Führung des Vielvölkerreichs. Als sprichwörtlicher Tropfen, der aus Sicht Wiens das Fass zum Überlaufen bringen sollte, erwies sich dann die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajevo.

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