Erich Kästner: Ein Mutmacher für Generationen

125. Geburtstag demnächst, 50. Todestag im Juli. Erich Kästner wird in diesem Jahr viel gefeiert. Er war nicht nur einer der größten Kinderbuchautoren der Weltliteratur, sondern auch ein politischer Romancier und Lyriker höchsten Rangs

von Erich Kästner: Ein Mutmacher für Generationen © Bild: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Steckbrief Erich Kästner

  • Name: Emil Erich Kästner
  • Geboren am: 23. Februar 1899 in Dresden
  • Gestorben am: 29. Juli 1974 in München
  • Beruf: Schriftsteller, Publizist, Drehbuchautor, Dichter
  • Familienstand: war nie verheiratet; 40 Jahre lang liiert mit Luiselotte Enderle
  • Kinder: ein Sohn - Thomas Kästner

Christine Nöstlinger, die dem Kollegen als eine von ganz wenigen augenhoch begegnen konnte, mochte ihn nicht. Ein Spießer sei der 1974 verstorbene Erich Kästner gewesen, gab sie zu verstehen und meinte in erster Linie "Das doppelte Lottchen". Unglaubwürdig und harmoniesüchtig sei das! Und in der Tat. Zwei einander zum Verwechseln ähnliche Mädchen, ein reiches und ein armes, die in einem Ferienheim draufkommen, dass sie scheidungshalber getrennte Zwillinge sind, und die daraufhin die Rollen tauschen, um die Eltern wieder zusammenzubringen: Das ist ein gewagter Plot und liegt auch nicht auf dem Zeitgeist, der alle Beteiligten - in erster Linie die Kinder - dazu verpflichtet, ihre Leben in emotionaler Selbstverwaltung durch das Chaos des On-off-Zeitalters zu navigieren.

Aber wie schön ist das, wie warmherzig, wie ermutigend die Botschaft! Kästner hatte die Geschichte schon im Nazi-Reich mit dem Regisseur Josef Baky als Filmdrehbuch konzipiert. Erschienen ist sie 1949 als Roman, und ein Jahr später drehte Baky die erste Verfilmung. Die erste von bis dato 15, ist hinzuzufügen. Die nächsten drei kamen 1951 in Japan, 1953 in England und 1961 in den USA heraus, Letztgenannte mit der kleinen Wunderschauspielerin Hayley Mills in der Doppelrolle. Die letzte, am Original intellektuell bescheiden orientiert, kam als Serie "Der Palast" zum Jahreswechsel 2021/22 via ORF und ZDF zum Einsatz.

Dass die Mädchen Luise und Lotte heißen, ist kein Zufall: Die Journalistin Luiselotte (so heißt auch die Mutter der Romangeschwister) Enderle war 40 Jahre lang Kästners Lebensgefährtin. Verheiratet war man nie, und den Sohn Thomas, dem er dann seinen Namen gab, zeugte Kästner mit seiner anderen Lebensgefährtin, Friedel Siebert. Er lebte abwechselnd mit beiden in München und in Berlin, bis der Sohn seine Identität preisgab.

Ein früh Vollendeter

Als Thomas 1957 geboren wurde, lag die weltliterarisch relevante Zeit seines Vaters fast ein Leben zurück. Ein Märchen ohne Hintergrund ist es also, dass die bis zur Verklärung tapferen und loyalen Buben aus seinen Kinderbüchern Geschöpfe der Reue eines alles andere als vorbildlichen Vaters waren. So verweben sich Person und Werk, Tatsache und Gerücht ständig ineinander. Sie erzwingen um der literarhistorischen Wahrheitsfindung willen das Eindringen in Intimitäten, denen man sich als hemmungsloser Bewunderer eines der größten deutschsprachigen Schriftsteller gern verweigern würde.

Erich Kästners große Zeit begann und endete früh. 1899 in arme Dresdner Verhältnisse geboren, hat er diesbezüglich einiges verschlüsselt: Sein Vater, Facharbeiter und Sozialdemokrat, hieß Emil, wie auch der jüdische Hausarzt Dr. Emil Zimmermann, von dem vermutet wurde, er sei der eigentliche Vater. Ida Kästner, die Mutter, war bis zu ihrem Tod eine überragende Gestalt im Leben des Sohnes. Noch als er sich durch die Nazi-Zeit duckte, schrieb er ihr aus Berlin täglich einen Brief. Ida Kästner trug, eine Überlebensnotwendigkeit, als Friseurin zum Haushaltseink0mmen bei. So wie Frau Tischbein aus "Emil und die Detektive". Im Roman ist der Vater tot. Wie auch der reale Vater im Leben von Mutter und Sohn keine Rolle mehr spielte.

Welterfolg Emil

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war es mit der Kindheit vorbei, sagte Kästner später in einem Radiointerview. Der 17-Jährige wurde noch zur Ausbildung eingezogen, und die halbe Bubenklasse kam aus dem Krieg nicht mehr zurück. Antimilitarist und Linker, lebenslang: Das waren die Resultate dieser radikalen Realpolitisierung.

1919 begann er in Dresden Germanistik zu studieren, promovierte 1925 und übersiedelte zwei Jahre später als Mitarbeiter namhafter Blätter nach Berlin. Die lang vergriffene Edition "Erich Kästner für Erwachsene" soll 2025 wiederaufgelegt werden. Sie umfasst acht Bände, der erste ist auf 360 Seiten dem lyrischen Werk zugedacht, mit dem er als hochpolitiche Stimme der Neuen Sachlichkeit seine Karriere begann. "Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?", heißt es da, Goethe parodierend, in hellsichtiger Vorausschau. "Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!/ Dort stehn die Prokuristen stolz und kühn/in den Büros, als wären es Kasernen." Der Kollege Hans Fallada rezensierte hingerissen: "Der mittelgroße Sachse aus Dresden mit seinem Gesicht, das immer anders aussieht und doch immer Kästners Gesicht bleibt -dieser Lyriker hat es fertig gebracht, Lyrik in Deutschland wieder populär zu machen."

© ullstein bild - RDB/Getty Images GELIEBT UND GEFEIERT. Erich Kästner 1967 bei einer Signierstunde in Zürich

Pünktchen und Fabian

Der erste Gedichtband datiert aus dem Jahr 1928. Im Jahr darauf erschien "Emil und die Detektive" und machte ihn zur Berühmtheit. Dieser fraglos autobiografische Emil, Sohn einer Witwe, die das gemeinsame Leben selbstaufopfernd mit aller Liebe aufrechterhält, ist das, was man früher einen Prachtkerl genannt hat. Jetzt soll er aus dem Provinzstädchen zur Großmutter nach Berlin fahren, da stiehlt ihm im Zug ein Verbrecher die gesamten Familienreserven. Aber die Berliner Kinder sind stark, schlau und mutig ... Loyalität, das Einstehen füreinander, wenn es drauf ankommt, nennt man das, und es macht Kästners Kinderliteratur einzigartig.

Zwei Jahre später glühte Kästners Genie in zwei verschiedenen literarischen Galaxien auf. Das Kinderbuch "Pünktchen und Anton" und der dezidiert Erwachsenen zugedachte Roman "Fabian" erschienen 1931 praktisch gleichzeitig.

"Pünktchen und Anton" ist wieder den großen Themen des politischen Humanisten Kästner verpflichtet: Ermutigung unter widrigen Umständen, und die hier riesige Kluft zwischen Arm und Reich. Aber Kästner schließt diese soziale Kluft nicht mit den Mitteln des Klassenkampfs (das gibt es auch, zum Beispiel das von Christine Nöstlinger präferierte Kinderbruch "Die rote Zora", das der Emigrant Kurt Kläber 1941 unter dem Namen Kurt Held in der Schweiz veröffentlichte).

Bei Kästner sind die Kinder immer die Klügeren und Stärkeren, und ihre Mittel sind Courage und Solidarität. So auch hier beim bezaubernden Titelpaar: der Spazierstockfabrikantentocher Luise Pogge, Pünktchen genannt, und dem Buben Anton Gast, Sohn einer armen Kriegswitwe, der die kranke Mutter irgendwie miterhalten muss. Als er in der Schule vor Erschöpfung einschläft, nimmt Pünktchen die Ereignisse in die Hand. Und auch sie braucht Hilfe von außen, denn die Pogges werden von kriminellen Nassauern belauert, dem Kindermädchen Fräulein Andacht und ihrem straffälligen Habschi Robert. Aber alles wendet sich zum Guten, wenn man sein Schicksal in die Hand nimmt.

Dass sich Deutschland, von den sozialen Gegensätzen schon fast zerrissen, zum Absturz aus grandioser Höhe der Anarchie und der Geistesfreiheit in die mörderische Barbarei der Nazi-Zeit anschickte, hat Kästner im Roman "Fabian" präzise vorausgesehen. "Fabian" ist ein Buch des Pessimismus. Inmitten der rasenden Lebensgier im pulsierenden Berlin sucht der titelgebende Germanist den Weg in die Freiheit, der ihn über die Bordelle und Lasterhöhlen in den Abgrund führt. Als die Nazis schon vor den Türen randalieren, will er in einem geisterhaften Akt der Selbstreinigung einen ertrinkenden Buben retten. Der Bub erreicht das Ufer, aber Fabian, der Nichtschwimmer ist, muss das realiter alsbald Folgende nicht mehr erleben.

»Die Köpfe haben ja doch keinen Zweck. Damit kann der Deutsche nicht schießen«

Ein Jahr zuvor schon, 1930, hatte Kästner das folgenreiche Gedicht "Ganz rechts zu singen" veröffentlicht.

Stoßt auf mit hellem hohem Klang!
Nun kommt das dritte Reich!
Ein Prosit unserm Stimmenfang!
Das war der erste Streich!
Der Wind schlug um. Nun pfeift ein Wind
Von griechisch-nordischer Prägung.
Bei Wotans Donner, jetzt beginnt
Die Dummheit als Volksbewegung.
Wir haben das Herz auf dem rechten Fleck,
weil sie uns sonst nichts ließen.
Die Köpfe haben ja doch keinen Zweck.
Damit kann der Deutsche nicht schießen.
Wir brauchen eine Diktatur
Viel eher als einen Staat.
Die deutschen Männer kapieren nur,
wenn überhaupt, nach Diktat.
Ihr Mannen, wie man es auch dreht,
wir brauchen zunächst einen Putsch!
Und falls Deutschland daran zugrunde geht,
juvivallera, juvivallera,
dann ist es eben futsch.

Am 10. Mai 1933 stand Kästner dann folgerichtig auf dem Berliner Opernplatz und sah zu, wie seine Gedichte und "Fabian" ins Feuer geworfen wurden. Dass er geblieben ist, wollen ihm Freizeitmoralisten aus der sicheren Distanz der Gegenwart heute gern verübeln. Das kürzlich erschienene Sachbuch "Der doppelte Erich" des Journalisten Tobias Lehmkuhl bietet hier exzellente Aufschlüsse.

Der doppelte Erich

Im Mai 1933 waren Kästners Werke verbrannt worden, aber zum Weihnachtsgeschäft konnte, eine Groteske, bei der Deutschen Verlagsanstalt noch das Opus magnum "Das fliegende Klassenzimmer" erscheinen. Zwei millionenfach verkaufte Kinder- und Jugendbuchautoren unserer Zeit nennen es unter ihren Favoriten aller Zeiten. "Er hat nie aus der Perspektive des Erwachsenen auf die Kinder heruntergesehen", sagt die Wienerin Ursula Poznanski. "Er konnte die Welt aus den Augen der Kinder sehen." Das, fährt die Autorin der "Erebos"-Reihe fort, sei das Wesen jedes herausragenden Kinderbuchs. "Das fliegende Klassenzimmer" nennt auch der Kollege Thomas Brezina seinen Herzenstitel. "Es ist erwachsen geschrieben, aber nicht wie von einem Erwachsenen für Kinder, sondern auf Augenhöhe, weil es Kindern Respekt und Achtung entgegenbringt, Mitgefühl mit dem, was in ihnen vorgeht."

»Er schreibt erwachsen, aber auf Augenhöhe mit den Kindern, denen er Respekt und Achtung entgegenbringt«

Thomas Brezina über den bewunderten Kollegen

"Das fliegende Klassenzimmer" reflektiert Kästners Erlebnisse in der Dresdner Schulzeit. Salbadernde Soziologen ereifern sich heute über die handgreiflichen Strategien zwischen den Konfliktparteien: hier das oberbayerische Bubeninternat, das der Hauptschauplatz ist, dort die nahe Realschule. Aber wie da im kleinen Maßstab eine ganze Welt entworfen wird, besiedelt von Archetypen, die uns auf ihrem Weg ins Erwachsenwerden alle vertraut sind: Das ist großartig. Der kleine Aristokrat, den sie oft auf den Arm nehmen und der so gern ein Held wäre; der stoische Dicke; der vom Vater verlassene Johnny Trotz; und Martin, der Klassenprimus, dem die Eltern zu Weihnachten brieflich eröffnen müssen, dass sie sein Fahrgeld nach Hause nicht aufbringen können; ein starker, zuinnerst menschlicher Lehrer, der alles gut werden lässt. Und ein anderer, der das Zutrauen in die Welt fast verloren hat.

Das Durchducken Kästners im Dritten Reich ist ohne Beispiel. Der emigrierte Kollege Carl Zuckmayer, der für den amerikanischen Geheimdienst ein Dossier über die Daheimgebliebenen verfasste, reihte ihn erst unter die "Anschmeißer" und korrigierte dann in Richtung Untadeligkeit.

Als ein in aller Öffentlichkeit Unsichtbarer saß Kästner, dessen Bücher verbrannt worden waren, im Berliner Café Leon und schrieb. "Emil und die Detektive" war schon 1931 verfilmt worden, und für Kästners glühendsten Anhänger, den Buben Hans-Albrecht Löhr, war ein Traum wahr geworden: Er wurde als kleiner Dienstag besetzt! Dann wurde die Freundschaft für den Primaner Löhr gefährlich. Er passte sich an und fiel an der Ostfront.

Kästner aber schrieb weiter, eine tragikomische Existenz zwischen Duldung und Berufsverbot.

Kästner-Sonntag auf ORF III

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Vorzumerken: Am 25. Februar sendet ORF III ganztags Kästner-Verfilmungen. 10.30: "Salzburger Geschichten" nach dem Roman "Der kleine Grenzverkehr"(Marianne Koch, Paul Hubschmid, 1957). 12.00 Uhr: "Das doppelte Lottchen" mit Jutta und Isa Günther, 1950. 13.50: "Pünktchen und Anton" mit Heidemarie Hatheyer, 1953. 15.20: "Das fliegende Klassenzimmer mit Paul Dahlke, Peter Kraus, 1954. 16.55: "Emil und die Detektive" mit Kurt Meisel, 1954. 18.30: "Kästner und der kleine Dienstag" von Wolfgang Murnberger, Zeitgeschichte mit Florian David Fitz, 2016.

Die Unterhaltungsromane

"Der kleine Grenzverkehr" und "Drei Männer im Schnee" konnten in der Schweiz erscheinen, der anonyme Theaterschwank "Verwandte sind auch Menschen" wurde gar 1939 vom linientreuen Regisseur Hans Deppe verfilmt. Und als Gipfel der Groteske schrieb Kästner unter dem Pseudonym Berthold Bürger das Drehbuch zum millionenteuren Jubiläumsfilm der Ufa: "Münchhausen", der erst dritte abendfüllende deutsche Farbfilm, prunkte mit der schauspielerischen Elite des Reichs, vom Superstar Hans Albers abwärts. Als die Alliierten anrückten, verbarg sich Kästner in Mayrhofen im Zillertal.

Das Genie ist erloschen

Und dann? War der Höllenspuk vorbei, Kästner wurde ein einflussreicher Mann der Wirtschaftswunderjahre: Präsident des deutschen P.E.N.-Zentrums, politischer Kabarettist, Gegner Adenauers und Antimilitarist ohne Wenn und Aber, auch als Redner gegen die deutsche Remilitarisierung und den Vietnamkrieg.

Aber sein Genie war schon am Erlöschen. 1949 erschienen das noch im Nazi- Reich konzipierte "Doppelte Lottchen" und das radikalpazifistische Meisterwerk "Die Konferenz der Tiere". Die hinreißend charmanten Titelviecher entführen da die Kinder aller Kontinente, um die Alten zur Abrüstung zu zwingen!

Kästners zusehends verhängnisvoller Alkoholismus ließ ihn ermatten. Die für den Sohn Thomas geschriebenen Abschiedswerke "Der kleine Mann" (1963) und "Der kleine Mann und die Miss" (1967) können sich mit dem Vorhergegangenen nicht messen. Auch etwas wie "Fabian" kam nicht wieder. Man fühlt sich an Friedrich Torberg erinnert, der ins Exil vertrieben wurde und dem frühen Geniewerk "Der Schüler Gerber" nichts Vergleichbares hinterherschicken konnte. Kästner erlag am 29. Juli 1974 dem Speiseröhrenkrebs.

"Als Kind habe ich ihn mit großer Leidenschaft gelesen, und er war wohl auch einer von den Guten", stimmt die renommierte Kollegin Renate Welsh (86, "Vamperl") ein herbes Requiem an. "Seine Gedichte sind gut, aber seine Kinderbücher mag ich nicht mehr." Wie das? "Ich hatte seit meinem elften Lebensjahr Migräne, hab es kaum mehr ausgehalten. "Und dann lese ich in 'Pünktchen und Anton': 'Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat.' Seither bin ich bös auf ihn."

So wirkt er auf wunderlichen Wegen in die Generationen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 05/2024 erschienen.