Das Ende der Empathie

Warum kümmern uns die Toten von Istanbul weniger als jene von Paris?

von Eva Weissenberger (Editorial) © Bild: NEWS/Ian Ehm

Stehen Sie nach dem Anschlag am Istanbuler Flughafen noch unter Schock? Waren Sie betroffen? Wir bringen in dieser Ausgabe keine große Geschichte über den Angriff, bei dem 42 Menschen ermordet wurden. Nach dem Brüsseler Terroranschlag im März widmeten wir dem Thema noch zehn Seiten. Warum nur? Das haben wir uns Anfang der Woche selbst gefragt. Der lange Bericht über den „kleinen Diktator der Türkei“, Recep Tayyip Erdoğan, der vor vier Wochen in News erschien, gilt nicht als Ausrede.

Es ist kein Trost, es macht die Sache noch schlimmer, aber wir sind mit unserer Ignoranz nicht allein. Immerhin, das Brandenburger Tor wurde mit der türkischen Flagge beleuchtet. Nach den Anschlägen von Paris im November zeigten Städte von London über Washington bis Sydney ihre Solidarität mit den Farben der Tricolore.Jeder ist sich selbst der Nächste: Ist man einmal am Flughafen in Istanbul ausgestiegen, macht man regelmäßig Urlaub in der Türkei, hat man türkische Nachbarn, dann sorgt man sich nun. Je größer die Möglichkeit, dass einen ein derartiger Angriff eines Tages selbst treffen könnte, desto – das Wort sagt es – betroffener ist man. Je ähnlicher man sich die Lebensweise vorstellt, desto mehr fühlt man mit.

So brutal die Anschläge in den EU-Städten waren, so schrecklich das Massaker in Orlando, und so sehr uns Istanbul noch kümmert, nirgendwo ermorden Terroristen mehr Menschen als im arabischen Raum, im Irak an die 10.000 im Jahr. Warum sind uns diese Opfer egal? Weil, und diese Erkenntnis ist nicht minder bitter, wir uns an Leid gewöhnen. Dass immer wieder Menschen, auch Kinder, auf der Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrinken, löste vor einem Jahr noch viel stärkeres Bedauern aus als heute.

Laut dem Neurowissenschaftler Claus Lamm liegt das daran, dass unsere Fähigkeit zur Empathie, also zum Mitgefühl, paradoxerweise sinkt, je größer das Leid wird, wie er vor zwei Wochen im „Falter“ schrieb. Sind zehn Menschen in Seenot, können wir uns das vorstellen. Sind es Hunderte, nehmen wir diese nicht mehr als Individuen wahr, sondern teilen sie in Kategorien ein, und „dann ist der Weg zur Emotion schon fast abgeschnitten“. Dieses Verhalten ist nicht nur schlecht: Wer alles Leid der Welt auf sich nimmt, hält das kaum aus. Sich abzugrenzen ist eine gesunde Reaktion.

Warum Sie in diesem News keine Strecke über den Terror in der Türkei finden, hat noch einen anderen Grund: Wir können zur Lösung des Problems derzeit nichts beitragen. Nach Paris ging es uns darum, zu zeigen, wie die Franzosen auf ihrem Savoir-vivre bestehen. Dass man sich die Lebenslust, die Freiheit und die Demokratie nicht wegbomben lassen darf. Nach Brüssel untersuchten wir, wie man mit der Angst umgehen kann und wie gefährdet man in Österreich tatsächlich ist – weniger, als die meisten fürchten. Nach Orlando wollten wir darauf hinweisen, dass Homophobie auch hierzulande ernst genommen gehört.

Und jetzt, nach Istanbul? Sollten die Täter der PKK angehören: Wir wissen nicht, wie man die Türkei dazu bringt, mit ihrer kurdischen Minderheit Frieden zu schließen. Sollten die Täter aus den Reihen des IS kommen, sollte eine Spur sogar nach Österreich führen: Wir wissen zur Stunde nicht mehr, als Sie in den Tageszeitungen gelesen haben. Wir sind ohnmächtig. Das müssen wir einfach zugeben

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: weissenberger.eva@news.at

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