Ein Wochenende,
das Europa veränderte

Was in Europa hinter den Kulissen passierte, als 2015 die Flüchtlinge kamen

Genau ein Jahr ist es her, dass 71 Menschen auf dem Weg in ein besseres Leben in einem Kühlwagen erstickten. Ihr Tod veränderte Europa. Wenige Tage später, in der Nacht von 4. auf 5. September 2015, setzten Werner Faymann und Angela Merkel mit einer einzigen Entscheidung eine Entwicklung in Gang, die über Wochen hinweg nicht mehr aufzuhalten war. Die zu massiven Veränderungen in der österreichischen und Zerwürfnissen in der deutschen Politik führte. Die Österreich, Deutschland, Europa spaltete.

von
Flüchtlinge - Ein Wochenende,
das Europa veränderte

Geschichte hat oft keinen Anfang und kein Ende. Wann also beginnt die Entwicklung, die bis heute das wichtigste politische Thema in Österreich, in ganz Europa ist? Vor fünf Jahren, als Italien wegen der Flüchtlinge erstmals den humanitären Notstand ausruft? Vor vier Jahren, als die Gewalt in Syrien eskaliert? Vor drei Jahren, als Europa – zumindest ein paar Schweigeminuten lang – um 390 Menschen trauert, die an einem Tag vor der Insel Lampedusa ertrunken sind? Im Bewusstsein vieler beginnt sie erst im Spätsommer 2015. Genau ein Jahr ist es her, dass das Entsetzen der Flucht mitten in Österreich angekommen ist.

Donnerstag, 27. August 2015

Es ist ein wichtiger Tag, der monatelang vorbereitet ist. Werner Faymann, Bundeskanzler von Österreich, empfängt bei der Westbalkankonferenz hohen Besuch in der Wiener Hofburg. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ist da, die Außenbeauftragte der EU, Federica Mogherini, und die Regierungschefs der Balkanländer. Eigentlich sollte es heute um EU-Beitrittsperspektiven gehen. Doch dann passiert etwas, das alles andere überschattet. Es wird ein wichtiger Tag, auf den niemand vorbereitet war.

Wien
Bei der Arbeitssitzung der Regierungschefs sitzt Faymann zwischen Mogherini und Merkel, als der Informationsdienst des Kanzleramts kurz nach 13:00 Uhr eine Eilmeldung an die Mobiltelefone aller Mitarbeiter verschickt: In einem Lkw auf der A4 wurden mehrere Leichen gefunden. Noch ist nicht klar, dass man 71 Tote bergen wird. Ein Mitarbeiter zeigt Faymann wortlos das Handy mit der Schreckensnachricht. Der reicht es Angela Merkel weiter. Es ist der Moment, in dem das Sterben von Menschen auf der Flucht im Herzen Europas angekommen ist. Merkel und Faymann informieren die anderen Konferenzteilnehmer über die Tragödie. Die Betroffenheit ist groß. Alle sind geschockt von der Brutalität der Schlepper und beteuern, dass etwas getan werden muss. Bei seiner Rede zum Arbeitsmittagessen hält Bundespräsident Heinz Fischer eine Schweigeminute ab.

Eisenstadt
Im Burgenland halten Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und der Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil eine kurze Pressekonferenz ab. Danach beruft Doskozil für 15:00 Uhr eine Krisensitzung ein, zu der auch der Militärkommandant eingeladen ist. Die Soldaten gehen davon aus, dass ihre Hilfe beim Abtransport der Leichen gebraucht wird. Doch darum geht es bei dieser Sitzung nicht. Sie erfahren, dass in den kommenden Tagen bis zu 7.000 Flüchtlinge im Burgenland erwartet werden. Soldaten sollen dabei helfen, Unterkünfte für Polizisten und Versorgungsstationen für Flüchtlinge aufzubauen. Um 17:30 Uhr wird Oberstleutnant Andreas Jordanich aus dem Feierabend zurück in die Kaserne gerufen. 7.000 Menschen in kurzer Zeit, das kann man sich beim Bundesheer nur schwer vorstellen. Als Jordanich um 18:15 im Verteidigungsministerium anruft, um über die Lage zu informieren, spricht er lieber vorsichtig von 5.000 Menschen.

Wien Noch am selben Abend schließen das Bundesheer und die Polizei ein Verwaltungsübereinkommen ab. Angela Merkel ist immer noch in Wien. Sie ist zur 60-Jahre-Feier der Deutschen Handelskammer im Palais Ferstl eingeladen. Dort soll sie eine Festrede halten, doch nach neun Minuten wechselt sie das Thema und spricht über die Flüchtlinge: „Wir sollten uns an unsere eigene Geschichte erinnern, an unsere eigene Wertüberzeugung, um daraus die Kraft zu finden, diese in der Tat große Herausforderung zu bewältigen“, sagt sie. Noch vor Ende der Veranstaltung verlässt sie das Palais und fliegt nach Berlin.

  • Bild 1 von 13

    2015Damals sperrte die Polizei in Budapest tagelang den Bahnhof, bis die Regierung die Flüchtlinge plötzlich an die Grenze bringt.
    2016 Heute schaffen es nur mehr sehr wenige bis nach Ungarn.

  • Bild 2 von 13

    2015 Die Polizei steht Wache. Flüchtlinge warten am Bahnhof Keleti in Budapest, nachdem dieser am 3. September wieder geöffnet wurde.
    2016 Reisende warten auf Fernzüge in Budapest

Freitag, 4. September 2015

Budapest
Seit Jahresanfang haben bis zu diesem Tag 162.980 Flüchtlinge Ungarn erreicht. 150.611 davon stellten einen Asylantrag. Doch die wenigsten warten den Ausgang ihres Verfahrens ab, sondern ziehen weiter nach Westen. Am Montag hatte Ungarn überraschend mehrere tausend Flüchtlinge ohne Registrierung mit Zügen nach Österreich und Deutschland fahren lassen. Doch einen Tag später riegelte die Polizei den Bahnhof wieder ab. Nun, am Freitag, kampieren mehr als 5.000 Menschen am Budapester Ostbahnhof. Die meisten von ihnen denken seit Kurzem tatsächlich, dass sie es bis nach Deutschland, das Land ihrer Träume, schaffen können. Denn am 25. August hat das deutsche Bundesamt für Migration über Twitter mitgeteilt, dass Flüchtlinge aus Syrien ab sofort auch ohne Registrierung in Deutschland anerkannt werden. Die Botschaft verbreitet sich schnell über die Handys der Flüchtlinge. Jetzt will sich erst recht niemand mehr in Ungarn registrieren lassen. Viele werfen ihre Pässe weg. Ab jetzt sind alle Syrer. In Diplomatenkreisen befürchtet man, dass dieser Tweet einen großen Effekt haben könnte. Im Bundeskanzleramt nimmt man ihn „neutral“ zur Kenntnis: „Niemand ist davon ausgegangen, dass das so ein Pull-Faktor ist“, sagt ein Mitarbeiter heute.

Den ganzen Artikel lesen Sie in der aktuellen Ausgabe von News (34/2016)

Kommentare