"Armut ist der Nährboden für diktatorische Grundstimmungen"

In den Hilfspaketen der Regierung werde auf die "normalen Menschen" vergessen, kritisieren Michael Häupl und Tanja Wehsely von der Wiener Volkshilfe. Sie warnen vor Corona-Folgen für Politik und Gesellschaft.

von
THEMEN:
Corona - "Armut ist der Nährboden für diktatorische Grundstimmungen" © Bild: Copyright 2021 Matt Observe - all rights reserved.

Alles starrt auf Corona-Zahlen und Lockdowns. Übersieht man dabei Einzelschicksale? Herr Dr. Häupl, Sie haben vor "Verelendung und Armut" gewarnt - in einem der reichsten Länder der Welt.
Häupl: Von Einzelschicksalen kann man bei einer halben Million Arbeitslosen und weit über 400.000 in Kurzarbeit nicht mehr sprechen. Das ist mittlerweile eine Armutspandemie, die noch größer ist als die gesundheitliche, und ich will diese keinesfalls kleinreden. Die Politik hat die Aufgabe, neben medizinischen Experten auch jene aus dem sozialen oder pädagogischen Bereich anzuhören und danach Entscheidungen zu treffen. Ich bin kein Befürworter des schwedischen Wegs mit den vielen Coronatoten: Aber was man berücksichtigen muss, sind die sozialen und psychischen Folgen eines Lockdowns.

Die Regierung informiert sich zu einseitig?
Häupl:
Das will ich nicht so pauschal sagen. Aber die Frage ist, ob man diese Form des Präsenzunterrichts nicht schon früher hätte machen können, vor allem, wenn man weiß, wie niedrig die Ansteckungsgefahr an Schulen ist. Bei den Maßnahmen vermisse ich jene im sozialen Bereich, etwa die Anhebung des Arbeitslosengelds auf 80 Prozent des letzten Einkommens, und man muss sich etwas für die Leute in der Gastronomie überlegen, bei denen das Trinkgeld ein erheblicher Teil des Einkommens ist. Bei den wirtschaftlichen Maßnahmen vermisse ich das Tempo. Ich kenne nicht wahnsinnig viele Kleinunternehmen, die das versprochene Geld schon erhalten hätten. Ich kann nur hoffen, dass der Herr Finanzminister durch seine Troubles mit der Justiz jetzt nicht an einer Beschleunigung der Maßnahmen gehindert wird.

© Copyright 2021 Matt Observe - all rights reserved. Michael Häupl ist seit 2020 Präsident der Wiener Volkshilfe

Diese Maßnahmen sollten ohnehin schon seit letzten März wirken.
Das ist leider korrekt. Ich bin alles andere als ein Wirtschaftsfeind. Ich freue mich über jeden gut gehenden Betrieb, der Arbeitsplätze vermehrt und Steuern zahlt - wenn er sie bezahlt. Aber im Sozialbereich wurde ja nicht einmal etwas versprochen, sondern gar nichts gemacht.

»Das ist eine Armutspandemie, die mittlerweile größer ist als die gesundheitliche«

Wenn "Koste es, was es wolle" im Sozialbereich gälte, was wären Ihre Wünsche?
Wehsely:
Was ich bekrittle ist, dass der Sozialbereich gar nicht einmal bedacht wurde: welche Verwerfungen da auf uns zukommen. Es gibt offenbar keinen Blick auf die ganz normalen Menschen und auf die armen Leute, die schon in besseren Zeiten schauen müssen, wie sie bis zum Monatsende durchkommen: Alleinerzieherinnen, Kranke, ältere Menschen, Flüchtlinge. Zu uns kommen mittlerweile Kleinunternehmer in die Lebensmittelausgabe, die einfach nicht mehr durchkommen. Diese Lebensumstände sind nicht am Radar der Regierung oder dass man nicht ein Jahr lang von 55 Prozent Arbeitslosengeld leben kann, weil man gar keine Ersparnisse hat, die man aufbrauchen kann.

Hören Sie rein: "News nachgefragt – Der Frage & Antwort Podcast zu Corona".

Letztes Jahr gab es im Sommer noch den Aufruf zum Konsum, dabei hat vielen Menschen da schon das Geld gefehlt.
Häupl:
Das war eine Aufforderung an die noch nicht zerbröselten Teile der Mittelschicht. Aber die Angst vor der Pauperisierung geht heute weit in die Mittelschicht hinein.

Fließen die Hilfsgelder dorthin, wo am lautesten lobbyiert wird?
Häupl:
Sofern es fließt, fließt es dorthin, wo man meint, dass man den höchsten politischen Mehrwert hat, um das sehr freundlich zu formulieren. Die kleinen Gastronomen oder EPU - was sollen die machen? Wenn der auch noch Corona kriegt, ist es überhaupt vorbei, weil wer vertritt den dann? Also: Die Angst vor der Verarmung ist durchaus berechtigt.

Wie wird sich unsere Gesellschaft in der Krise verändern? Am Anfang wurde noch Zusammenhalt getrommelt, heute sieht man vor allem traurige Gesichter.
Häupl:
Mich persönlich stimmt es auch nicht fröhlich, dass die Wirtshäuser zu sind, auch wenn ich damit leben kann. Es gibt Leute, die sind mit ihren Lebensumständen nicht rasend zufrieden, okay. Es gibt aber auch jene, die nicht wissen, wie sie in der nächsten Woche das Essen für die Kinder auf den Tisch stellen. Bei ihnen habe ich ein gewisses Verständnis, dass sie sich gegen die Maßnahmen auflehnen. In dem Mischmasch von richtigen Maßnahmen, fehlender Kontrolle der Einhaltung dieser Maßnahmen und völlig chaotischen Maßnahmen, die in Panik getroffen wurden, ist es für einen normalen Menschen sehr schwierig, zu differenzieren. Ich verstehe, dass diese Leute auf die Straße gehen und sagen: "So kann ich nicht weiterleben." Man sollte sich, wenn man auf solche Demos geht, aber umschauen, wer da neben einem geht.

Ihnen macht die Unterwanderung dieser Demos durch die rechte Szene Sorgen?
Häupl:
Natürlich macht mir das Sorgen. Denn selbstverständlich ist Armut der Nährboden für diktatorische Grundgesinnungen, egal, in welche Richtung. Bei uns geht es, wie in großen Teilen Europas, nach rechts. Armut frisst Demokratie. Das sollte auch jedem Christdemokraten zu denken geben: Armut bekämpfen heißt, die Demokratie zu schützen.

Wehsely: Man muss wirklich handeln. Die Volkshilfe und andere Organisationen arbeiten seit dem ersten Lockdown durch. Da gibt es kein Homeoffice, wir arbeiten direkt am Menschen. Tolle Kolleginnen halten dieses Radl aufrecht. Am Anfang gab es Zusammenhalt und Klatschen um 18 Uhr für die Pflege. Jetzt gibt es die Mutationen, und das Impfen geht schleppender voran. Da muss man die Moral aufrecht erhalten.

»Zu uns kommen mittlerweile Kleinunternehmer in die Lebensmittelausgabe«

Merken Sie auch an den Spenden, dass die Menschen am Limit sind?
Wehsely:
Das merken wir noch nicht. Im letzten Jahr gab es sogar eine ganz große Bereitschaft, zu spenden. Wir werden es wohl verzögert merken. Häupl: Vielleicht schon in der zweiten Hälfte dieses Jahres. Wehsely: Was wir auch merken werden, wenn nichts unternommen wird: Wohnungen werden verloren gehen.

Häupl: Das ist ein gravierendes Thema. Delogierungen werden erheblich zunehmen. Wir wollen schon jetzt darauf aufmerksam machen, dass Wohnungslose für die öffentliche Hand teurer sind, als wenn man sie bis zum Zeitpunkt durchträgt, wo sie selber wieder in der Lage sind, für Bezahlung zu sorgen. Das kommt den Steuerzahler billiger.

Ein Café wie das Landtmann kann sich laut gegen drohende Delogierung wehren, die Kleinen leiden still?
Häupl:
Und fliegen raus. Ich würde es für einen extremen Verlust halten, wenn es das Landtmann nicht mehr gäbe. Das ist ja das Wohnzimmer der Sozialdemokratie. Aber die vielen Zehntausend, die aus ihrer Wohnung fliegen könnten, machen mir doch um eine Nuance mehr Sorgen.

Sie haben das Aufkommen der Rechten auf dem Boden wachsender Armut angesprochen. Nach der Wirtschaftskrise 2008 feierte die FPÖ die größten Erfolge, die heute das Feld der Coronazweifler bespielt. SPÖ-Chefin Rendi-Wagner versucht es seriös als Ärztin. Wer wird mehr Erfolg haben?
Häupl:
Momentan wirkt in Umfragen bei der FPÖ Ibiza noch mehr als ihr Populismus in der Gesundheitskrise. Die Seriosität Rendi-Wagners als Medizinerin bringt ein gutes Ergebnis. Dass die Performance der Bundesregierung nicht die allertollste ist, mag da vielleicht auch eine Rolle spielen. Aber das kann sich in Zukunft auch ändern: Den Leuten, die heute vor den Trümmern ihrer Existenz stehen, ist das Ibiza-Video wurscht. Und wenn man jetzt über Spenden an die ÖVP diskutiert: Wo sind denn die Goldbarren der FPÖ her?

»Bei der FPÖ wirkt im Moment Ibiza mehr als ihr Populismus in der Gesundheitskrise«

Hat Strache Gold nicht als gutes Investment bezeichnet?
Häupl:
Dann soll er es nachweisen. Kann schon sein, dass ich die wirtschaftlichen Fähigkeiten des Herrn Strache noch nicht erkannt habe, aber ich bin ja lernfähig. Trotzdem sollte man die inhaltlichen Fragen stellen. Was mich am U-Ausschuss ärgert, ist, dass man sich mit tatkräftiger Hilfe der ÖVP und ihrem scharfen Blick fürs Unwesentliche nur damit beschäftigt, wer dies Video gedreht hat und wem es angeboten wurde. Was auf Ibiza von Strache und Gudenus gesagt wurde, sollte im Vordergrund stehen. Das muss man viel aggressiver angehen. Das sage ich ganz offen.

Viele Menschen, die sich jetzt Sorgen machen, sind bei Ibiza längst ausgestiegen. Was bieten ihnen die SPÖ?
Häupl:
Die Argumente der SPÖ sind eh gut und richtig: Sie greift die soziale Frage auf mit den Kernthemen Erhöhung der Arbeitslose und Unterstützung für Klein-und Mittelbetriebe. In Wien kommt eine große Aufgabe auf die Stadtregierung zu mit der Wohnungslosigkeit. Da kann man darstellen, wie die SPÖ beispielhaft Politik macht. Das ist für die Leute greifbarer als irgendwelche Versprechungen. Sie glauben den Politikern zu einem erheblichen Teil ja nicht mehr.

Eine Forderung der Volkshilfe ist eine Grundsicherung für Kinder. Wie hoch soll die sein, und soll sie sozial gestaffelt werden?
Häupl:
Aufs bestehende Kindergeld 200 Euro drauf. Warum? Die bisherigen Instrumentarien haben angesichts dessen, was wir an Kinderarmut in Österreich sehen, offensichtlich nicht gereicht. Diese Forderung schließt aber keine allgemeine Grundsicherung ein.

Wehsely: Es ist ein anderer Fokus, ob man das Gleiche an jedes Kind ausschüttet, oder ob man es staffelt. Es geht darum, jedem Kind unabhängig von der Börse der Eltern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen.

Es gibt zurzeit auch soziale und Bildungsarmut.
Häupl:
Das hängt zusammen. Man lernt mit seinen Freunden mehr als direkt in Unterrichtsstunden. Ich weiß nicht, wie schnell wir diese Vereinsamung überwinden können und wie schnell wir das soziale Lernen bei Kindern wieder schaffen können, die jetzt de facto ein halbes Jahr vor dem Computer gesessen sind.

Auch Konflikte zu lösen, kann man nur analog lernen.
Häupl:
Der Schulhof ist eine Schule fürs Leben. Man lernt dort, dass die Austragung von Konflikten durch Gewalt eigentlich beschissen ist, um es sehr drastisch zu sagen. Man lernt, dass man Konflikte ohne Sieger und Besiegte lösen kann. Ich habe die Lehrerausbildung fast abgeschlossen und bin sicher, dass seither vieles besser geworden ist. Damals wäre meine Hoffnung nicht rasend groß gewesen, dass ein Mittelschullehrer tatsächlich mit einer solchen Situation zurande kommt.

Wehsely: Es ist so wie immer: Gute Lehrer sind gute Lehrer, und schlechte sind schlechte. Egal, ob das Tool, das sie nutzen, analog oder digital ist. Was man aber viel zu wenig sieht: Für Kinder ist der Lockdown wie Gefängnis. Stell dir vor, du sitzt mit Eltern zuhause, mit denen du nicht auskommst. Und dann hast du womöglich noch wirklich schreckliche Eltern, wo sogar noch Gewalt im Spiel ist. Das sind die Lebensrealitäten, denen Kinder ausgesetzt sind. Dass die Schule ihr Rückzugsort ist, wird überhaupt nicht gesehen.

© Copyright 2021 Matt Observe - all rights reserved. Tanja Wehsely ist die Geschäftsführerin der Hilfsorganisation

Welches Angebot haben Sie für solche Kinder?
Wehsely:
Wir haben einen großen Jugendwohlfahrt-Bereich und sind während der Pandemie in engem Kontakt mit den Kids. Hundert Kinder leben bei uns in sozialpädagogischen WG, die waren sogar ein bisschen im Vorteil, weil sie in dieser Art von Großfamilie zumindest irgendeine Ansprache haben. Wir haben zwei Produktionsschulen für Jugendliche zwischen 18 und 25, die noch nicht in den Arbeitsmarkt gefunden haben, teilweise auch mit psychischen Problemen. Auch die brauchen eine Tagesstruktur, haben sich jeden Tag brav gemeldet und ihre Aufgaben gemacht. Jugendliche, die in WG waren, melden sich verstärkt und finden wieder Anschluss. Und wir haben immer noch die Lernbuddies für Kinder in Flüchtlingshäusern. Das ist keine verlorene Generation. Man kann auf die Kinder und Jugendlichen setzen.

Zuletzt sah man Sie gegen die Abschiebung von Kindern demonstrieren, und Sie fordern die Aufnahme von Kindern aus griechischen Flüchtlingslagern. Kann das mehr als Symbolpolitik sein, wenn die Regierung sich querlegt?
Häupl:
Symbolpolitik würde ich das nicht nennen. Wir haben es darauf angelegt, die politische Diskussion zu verbreitern und gesellschaftliche Bündnisse herzustellen. Das ist nicht wenig. Wenn eine Regierung ins Trudeln kommt, gibt es zwei Möglichkeiten: Man tritt in einen Diskurs mit den Kritikern, oder man führt sich auf wie in Weißrussland oder Myanmar. Damit ich nicht missverstanden werde: Das sehe ich in Österreich nicht! Daher ist der Diskurs das einzig Mögliche. Er dauert halt. Man muss in der Demokratie auch Geduld haben. Wir wollen: dass Gemeinden und Länder beim Bleiberecht mitentscheiden können, dass Kinder in Ausbildung nicht abgeschoben werden dürfen und dass hier geborene Kinder die Staatsbürgerschaft bekommen. Das gibt es in vielen Ländern, ohne dass deswegen die Demokratie zusammenbricht. Und zu Moria: Dass Kinder jetzt in diesen Lagern hungern und frieren, auf europäischem Boden, ist die größte Schande. Da gibt es eine kollektive Verantwortung. Lassen wir jene Leute helfen, die helfen wollen.

Wehsely: Es stehen in Österreich Unterkünfte leer, die bezahlt werden müssen.

Innenminister Nehammer sagt, Griechenland wolle Kinder gar nicht ausreisen lassen. Man fürchte einen "Moria-Effekt".
Häupl:
Diesem seelenlosen Zynismus kann ich nicht folgen. Ich bin gerne bereit, mit dem Innenminister über diese Frage zu diskutieren, aber nicht auf dieser Ebene. Mich würde auch interessieren, was der Regierungspartner der ÖVP sagt.

Sie haben auch mit den Grünen in Wien regiert. Waren die da auch so "schmähstad"?
Häupl:
Ich habe sie anders erlebt. Wir haben uns zusammengerauft und umgesetzt. Mit einer Ausnahme, dem Wahlrecht. Da haben sie in aufrechter Koalition gegen uns gestimmt und verloren. Wer sich mit dem Teufel an den Tisch setzt, braucht einen langen Löffel, sagt ein Sprichwort.

Das heißt übersetzt auf Türkis-Grün?
Häupl:
Das Argument, es ist besser, die Grünen sind in der Regierung als die Blauen, hat schon was für sich. Aber es nutzt sich langsam ein bisschen ab, wenn ich bei bestimmten Themen nicht erkennen kann, was der Vorteil ist.

Wie geeint ist denn die SPÖ bei der Aufnahme von Flüchtlingen? Herr Fürst von der SPÖ Burgenland fordert einen Zuwanderungsstopp und meint, dass die Balkanroute nicht geschlossen ist.
Häupl:
Ich würde zur Meinung des Herrn Landeshauptmann sofort etwas sagen, aber mit einem Parteisekretär muss ich mich nicht auseinandersetzen. Noch dazu, wo er doppelt Unsinn redet: Er fällt auf die Argumente des Herrn Kurz herein, der von einer Balkanroute redet, die es nie gegeben hat und mit der er nichts zu tun hat, weil Merkel und Erdoğan zur Beschränkung der Flucht über die Ägäis beigetragen haben. Außerdem ist sein Vorstoß nutzlos, weil es keine Flüchtlingsströme gibt.

Apropos Kurz: Soll die SPÖ mit ihm in eine Koalition?
Häupl:
Das ist keine Frage, die sich heute stellt. Es könnte eine Brücke sein, über die man geht, wenn man davor steht. Aber momentan sehe ich die Brücke nicht. Schon gar nicht ohne Neuwahlen. Einen fliegenden Wechsel gibt es nicht.

Das Interview erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr.7/21

Kommentare

Häupl seine Wiener und Ausländer sind hier Spitzenreiter!

Dilemma, weil die Menschen zu deppert sind, um einfachste Regeln einzuhalten!(wissen nicht einmal was 2 Meter sind) Nicht die Regierung sondern diese Vollidioten (täglich ständig zu beobachten!)sind für diese Zahlen verantwortlich!!

Armutspandemie ist der richtige Ausdruck für dieses Dilemma!

Seite 1 von 1