Das wirklich Wichtige

Die Autorin über Kind sein, Älter werden und warum sie ihrer Tochter in den Hintern biss

von
Christine Nöstlinger - Das wirklich Wichtige

Ob das nun ihr einhundertfünfzigstes oder schon ihr einhundertsechzigstes Buch ist, das vermag Christine Nöstlinger, 75, nicht zu sagen. "Achtung, Kinder!“ ist ein Gedichtbändchen über die tägliche kleine und große Angst: zerrüttete Familien, Fettleibigkeit, Außenseitertum und die Hassliebe zum kleinen Geschwister. Die singuläre Kinderbuchautorin ist dabei so nah an den Problemen wie in den Siebzigerjahren, als sie zu schreiben begann, eine Instanz der Menschlichkeit und des Verstehens in beunruhigender Zeit. Die Richtige also, um mit NEWS den Welttag des Buches am 23. April zu begehen.

NEWS: Wie lang feiern wir noch den Welttag des Buches? Die PISA-Studie belehrt uns ja, dass der Anteil funktionaler Analphabeten unter den Kindern steigt.
Christine Nöstlinger: Ich kenn eine ganze Menge funktionale Analphabeten, die nicht 14 oder 13 Jahre alt sind, sondern 70 oder 60. Es wird nur heutzutage viel mehr untersucht. Ich erinnere mich an meine Kindheit im Unterschichtbezirk. Die Rechtschreibfehler, wenn jemand nur drei Wörter auf einen Zettel geschrieben hat, waren sagenhaft. Wenn die Hausfrauen ihre Romanheftln gelesen haben, ging das nur, indem sie mit dem Finger die Zeile nachgefahren sind und dabei die Lippen bewegt haben. Ich weiß noch, wie sie mit einfachen Zetteln zu meinen Eltern gekommen sind.

NEWS: Ist es denn heute schwieriger oder leichter als früher, ein Kind zu sein?
Nöstlinger: Das ist doch, wie immer, ein schichtspezifisches Problem. Meine Enkelkinder haben ein wesentlich leichteres Leben als andere Kinder ihres Alters. Wenn du in einem freundlichen, liberalen, einkommensmäßig stabilen Elternhaus aufwächst, hast du ein Leben wie ein junger Hund, wie wir früher gesagt haben. Du wirst gegen die Lehrer in Schutz genommen; es geht dir dauernd Verständnis zu; man lässt dich gewähren; du hast dauernd, was du haben willst. Und dann gibt es Kinder, denen es ganz dreckig geht.

NEWS: Das war aber immer so.
Nöstlinger: In der Unterschicht war es noch grauslicher. Die körperlichen Strafen sind heute weniger als früher. Ich kann mich an einen Kindheitsfreund aus dem Nachbarhaus erinnern, über dessen Bett zur Abschreckung eine Reitpeitsche hing.

NEWS: Man war aber doch geborgen, mit oder ohne Watschen.
Nöstlinger: Jetzt romantisieren Sie aber. Ich hatte eine Sitznachbarin in der Schule, die wurde bei der Ausspeisung gestoßen und hat sich die Schürze mit Suppe bekleckert. Sie ist mit mir nachhause gegangen, und meine Mutter hat die Schürze gewaschen und trocken gebügelt, weil sie sich sonst nicht heimgetraut hätte. Da ist man nicht geborgen.

Habe Tochter in Hintern gebissen

NEWS: Und Ihre beiden Töchter? Haben Sie die je geschlagen?
Nöstlinger: Die Ältere hab ich einmal in den Hintern gebissen. Da war auch eine Wut dabei, fürchte ich. Sie war immer bei meiner Mutter, die eine langsame, dicke Frau war und auch mein Kind auf dick und langsam gefüttert hat. Einmal hat sich meine Tochter mit einem kurzen Leiberl vor mir gebückt. Ich wollte nur um Spaß zubeißen - da wurde es stärker …

NEWS: Hat es geblutet?
Nöstlinger: Aber nein, was glauben Sie denn!

NEWS: Sind Sie selbst geschlagen worden?
Nöstlinger: Nie.

NEWS: Was waren Ihre Eltern?
Nöstlinger: Die Mutter war Kindergärtnerin und der Vater Uhrmacher. Er hat mir einmal eine Ohrfeige gegeben. Er hatte eine furchtbare Kriegsverletzung mit einer Knocheneiterung im Bein. Die war wieder einmal aufgeplatzt. Und ich war furchtbar hysterisch, weil wir gerade ausgebombt wurden. Ich hätte ein Samtkleid anziehen sollen, das meine Mutter von irgendeiner Bezugsquelle gekriegt hatte - und das ich hasste. Er wollte es mir über den Kopf ziehen, und ich habe ihn in meiner Hysterie gegen das Schienbein getreten. Da hat er mir eine Watschen gegeben, hat sich aber sofort entschuldigt.

NEWS: Dafür vereinsamt man heute. Es wird ja für eine Frau als Makel betrachtet, daheim bei den Kindern zu bleiben.
Nöstlinger: Ach was, ich bin auch nicht daheim geblieben. Zuerst habe ich beim Radio gearbeitet, und dann war ich mit meinen Büchern viel in Deutschland unterwegs. Ich verstehe schon, dass man Hausfrau und Mutter sein kann. Aber dann müsste in mir die Sehnsucht nach mindestens fünf Stück sein. Ein oder zwei Kinder großzuziehen und sonst nichts zu tun ist ein bissl wenig. Darum war das Schreiben so eine Befreiung. Wenn du nie Hausfrau und Mutter sein wolltest - und dann kannst du plötzlich etwas! Es gab ja kaum eine vernünftige Empfängnisverhütung, irgendwann bist du schwanger geworden. Und dann warst du in der Falle.

NEWS: Wie sind denn Ihre beiden Töchter aufgewachsen?
Nöstlinger: Bei mir, wenn ich da war, oder meine Mutter ist gekommen, oder mein Mann war daheim. Der gehörte allerdings nicht zur Generation der Väter, die den Kindern etwas kochen. Lateinaufgabe hat er mit ihnen gemacht, das schon.

NEWS: Sind Sie für Ganztagsschulen?
Nöstlinger: Natürlich. Ich bin erstens für die Ganztagsschule und zweitens für die Gesamtschule.

NEWS: Aber wie kommt meine Tochter dazu, in der Schule zu kompensieren, was Integrationspolitiker über Jahrzehnte verschissen haben?
Nöstlinger: Ja, den Standpunkt kann man haben. Aber wenn man für Chancengleichheit ist, muss man für die Gesamtschule sein, auch per Gesetz. Aber mit dem nötigen Geld und Know-how. Einfach zu beschließen, dass jetzt Gesamtschule ist, das ist zu wenig …

NEWS: … oder die Hauptschulen umzubenennen, damit sich die Schildermaler und Drucksortenhersteller freuen.
Nöstlinger: Das Projekt Neue Mittelschule mag nicht so schlecht sein. Ich höre aber, dass es nicht funktioniert.

NEWS: Weshalb gibt es in Ihren Büchern keine Türken?
Nöstlinger: Am Rand kommen sie vor, aber nie als Hauptfigur. Kinderbücher kann man nicht von außen schreiben, das wollen Kinder nicht lesen. Ich kann natürlich Türkenbuben beschreiben, wie ich sie als Erwachsener sehe. Aber das genügt meinen Lesern nicht. Ich sehe, wie sie sich begrüßen: "Bruder, wie geht?“ - "Guat!“ Ich sehe ihr Macho-Gehabe, oft schon mit drei. Wie er geht und wie er spuckt, hat er vom Papa abgeguckt.

NEWS: Gefällt Ihnen das?
Nöstlinger: Nein.

Das Macho-Wesen blüht

NEWS: Sie trauen sich etwas. Heute wird man als Autor rasch zum Nazi erklärt, selbst Martin Walser und Günter Grass.
Nöstlinger: Blödsinn. Deshalb ist man kein Nazi. Man darf sagen, dass es bedenklich ist, wenn in Wiener Neuen Mittelschulen das Macho-Wesen blüht. Man darf auch sagen, dass Israel eine hinige Siedlungspolitik betreibt.

NEWS: Grass darf nicht.
Nöstlinger: Gut, er hat da schon auch Blödsinn hineingeschrieben. Aber diese lächerliche Aufregung!

NEWS: Sie haben mir einmal gesagt, dass Sie ganz gegen antiautoritäre Erziehung sind. Aber woher die Autoritäten nehmen? Ein Polizist muss heute froh sein, wenn ihm keiner einen Zettel mit Aufschrift auf den Rücken klebt. Oder das Heruntermachen der Lehrer.
Nöstlinger: Wenn statt der Autorität ein amikales Verhältnis entsteht, wär das schon gut. Aber das entsteht ja auch nicht! Es gibt natürlich immer noch Lehrer, die sich durchsetzen können. Das sind die mit einem gewissen Charisma. Aber so viele Leute mit Charisma gibt es nicht, und schon gar nicht wollen alle Lehrer werden.

NEWS: Strafen dürfen sie jetzt auch nicht mehr.
Nöstlinger: Aber Strafen nützen doch nichts! Ich hab nie strafen können. Ich käm mir lächerlich vor, wenn ich einem Kind sage: "Jetzt hast du Hausarrest.“ Ich habe meinen Kindern auch meinen Standpunkt klargemacht. Aber da hab ich bös geschaut oder die Tür zugeknallt.

NEWS: Braucht ein Kind eigentlich Vater und Mutter?
Nöstlinger: Ich bin froh, dass ich Vater und Mutter hatte. Ich habe meine Mutter nicht mögen und meinen Vater durch dick und dünn geliebt. Es ist schon gut für ein Kind, wenn es zwei Menschen verschiedenen Geschlechts hat, an denen es sich orientieren kann.

NEWS: Immer dieselben?
Nöstlinger: Auf alle Fälle ist es besser, die Eltern trennen sich, als sie streiten jeden Tag. Man sagt immer, man bleibt wegen der Kinder zusammen. Aber niemand bleibt wegen der Kinder zusammen. Das habe ich immer für einen Schmäh gehalten.

NEWS: Darf ich zum Schluss persönlich werden? Wie geht es Ihnen mit dem Älterwerden?
Nöstlinger: Es ist nicht lustig, alt zu sein. Es geht einem ja nicht besser, wenn man alt ist.

NEWS: Kommt etwas danach?
Nöstlinger: Nein, nix. So was Atheistisches wie mich gibt’s ja gar nicht.

NEWS: Und dass es einmal vorbei ist? Macht Ihnen das zu schaffen?
Nöstlinger: Insofern, als ich es bedaure, dass es einmal aus ist. Ich würde schon gern ewig leben. Es gibt Leute, die gesundheitlich oder auch psychisch so weit sind, dass sie nicht mehr wollen. Bei mir ist das nicht so.

NEWS: Das heißt, Sie sind glücklich?
Nöstlinger: Glück … Glück ist was für Augenblicke. Ich bin zufrieden.

Info:
Achtung, Kinder! Residenz Verlag, 16,90 Euro.