"Nur alle Kinder gemeinsam in eine Schule zu geben, wird die Probleme nicht lösen"

Psychologin Christiane Spiel erklärt im Interview das große Problem der Bildungsungleichheit in Österreich. Könnte die Gesamtschule eine Lösung sein? Nur unter "bestimmten Bedingungen", sagt sie.

von Die Tafel in einer Schule © Bild: Elke Mayr

In Österreich entscheidet sich im internationalen Vergleich schon sehr früh, ob die Kinder ins Gymnasium oder in die Mittelschule kommen. Warum ist das ein Problem?
Eltern können ihre Kinder aufgrund ihres Bildungshintergrunds, ihrer finanziellen Möglichkeiten etc. sehr unterschiedlich unterstützen. Gebildete Eltern wissen zum Beispiel, wie wichtig es ist, dass ein Kind in den Kindergarten geht. Sie wissen auch, wie wichtig es ist, ins Gymnasium zu kommen. Daher geben sie sich große Mühe, dass die Kinder die entsprechenden Noten erreichen und versuchen teilweise sogar Einfluss auf die Volksschul-Lehrerinnen zu nehmen, wie man hört. Und was passiert dann? Man muss nur im nationalen Bildungsbericht nachschauen. Kinder, die schon in der Unterstufe im Gymnasium sind, haben eine wesentlich größere Chance, in die Oberstufe eines Gymnasiums zu kommen, als Kinder, die vorher in der Mittelschule waren. Und damit auch eine höhere Wahrscheinlichkeit Matura zu machen und zu studieren. Das heißt, der Bildungsweg ist in gewisser Weise schon vorgezeichnet.

Es ist seit vielen Jahren bekannt, dass die Bildungsungleichheit in Österreich im internationalen Vergleich sehr groß ist. Durch Corona ist sie noch größer geworden. Warum tut trotzdem niemand etwas dagegen?
Da gibt es vermutlich mehrere Gründe. Einer ist sicher, dass der Bildungsbereich in Österreich sehr stark ideologisch überfrachtet ist. Die einen sind zum Beispiel militant gegen eine Gesamtschule, während die anderen dafür sind. Ein weiterer Grund ist, dass es sehr, sehr lange dauert, bis Maßnahmen im Bildungsbereich eine Wirkung zeigen können. Denken Sie zum Beispiel an in die neue Pädagoginnenbildung. Es gab jahrelange Vorbereitungen, dann wurde sie beschlossen, dann wurden die Curricula gemacht, dann dauerte es noch einmal sechs Jahre, bis die Studierenden das Studium absolviert hatten, und dann erst kamen die ersten neu ausgebildeten Lehrerinnen ins System. Das heißt bis Maßnahmen im Bildungsbereich Wirkung zeigen, dauert es zumeist länger als eine Legislaturperiode, oft länger als zwei Legislaturperioden. Die Politik will jedoch in Hinblick auf die nächsten Wahlen am liebsten schnelle Erfolge einfahren. Das ist im Bildungsbereich eben besonders schwierig.

»Für Gesamtschulen bräuchte man zusätzliches Lehr- und Unterstützungspersonal«

Wäre eine Gesamtschule die Lösung der Probleme, die Sie eingangs skizziert haben?
Die Gesamtschule wäre grundsätzlich gut, aber nur unter bestimmten Bedingungen. Denn nur alle Kinder gemeinsam in eine Schule zu geben, wird die Probleme nicht lösen. Es müsste entsprechend vorbereitet werden. In der Gesellschaft müsste es Akzeptanz geben, sonst gibt es dauernd Widerstände, und die Gesamtschulen müssen eine hohe Qualität haben. Man braucht sicherlich zusätzliches Lehr- und Unterstützungspersonal. Denn die hohe Heterogenität ist eine große Herausforderung. Nehmen wir die Schule in der Anton-Krieger-Gasse als Beispiel: Dort werden 25 Prozent Kinder ohne AHS-Reife genommen. Wir haben in ganz Wien aber mehr als 50 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund.

Psychologin Christiane Spiel
© Foto Mitarbeiter Fakultät Bildungspsychologin Christiane Spiel

Zur Person:
Christiane Spiel (* 1951 in Wien) studierte Mathematik, Geschichte und Psychologie. Nach Stationen im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und der Karl-Franzens-Universität Graz, ging sie 2000 an die Universität Wien mit dem Auftrag der Gründungsprofessur für Bildungspsychologie und Evaluation. Von 2004 bis 2006 hat sie als Gründungsdekanin die Fakultät für Psychologie an der Universität Wien aufgebaut. Von 2006 bis 2016 war sie Vorstand des Instituts für Angewandte Psychologie: Arbeit, Bildung, Wirtschaft. Spiel ist unter anderem als Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Psychologie und Vorsitzende der European Society for Developmental Psychology aktiv. Ihre Forschung konzentriert sich auf lebenslanges Lernen, Gewaltprävention, Integration in multikulturellen Schulen und Geschlechtsstereotype in der Bildung. Christiane Spiel hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter das Große Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich und den Wissenschaftspreis der Stadt Wien.

In den Ballungsräumen geht, wer kann, ins Gymnasium, die sich zu einer Art Gesamtschule entwickelt. Und der Rest sitzt in den Mittelschulen fest, die notorisch überfordert sind und politisch aufgegeben wurden. Würden Sie diesen Eindruck teilen?
Ohne Zweifel gibt es diese Segregation, dass genau diejenigen, die am meisten Schwierigkeiten haben, gemeinsam in den Mittelschulen sind. Wenn ein Kind eine schlechtere Ausgangssituation hat, weil seine Eltern selbst nur einen Pflichtschulabschluss haben, es nicht gut Deutsch kann etc. hat es ein gewissen Risiko, das Minimum in den Fächern nicht zu schaffen. Wenn aber in derselben Klasse sehr viele Kinder sind, die dasselbe Risiko haben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind es nicht schafft, noch weiter an. Das macht es dann ganz schwierig, die erforderlichen Leistungen zu erzielen. Man müsste daher den sogenannten Chancenindex umsetzen. D.h. dass diese Schulen mehr Ressourcen bekommen, die sie – und das ist wichtig – so einsetzen können, wie es für sie am sinnvollsten ist; natürlich mit Begründung.

»Ich halte es für sinnvoller, Schulen mit großen Problemen mehr zu unterstützen«

Die Volksschulen sind in der Theorie Gesamtschulen. De fakto gibt es hier aber bereits eine starke Trennung. In Wien zum Beispiel gibt es Volksschulklassen, in denen kaum ein Kind deutscher Muttersprache ist, während die autochthone Mittelschicht ihre Kinder in Privatschulen gibt, damit sie unter ihresgleichen bleiben. Wie könnte man hier eine bessere Durchmischung fördern? Wie stehen Sie zu der Idee, Kinder mit Bussen aus privilegierten Wohngegenden in Volksschulen in Problemvierteln zu bringen?
Ich bin für Innovationen und Maßnahmen, die eine Chance haben, realisiert zu werden. Man kann sich die Widerstände der Eltern vorstellen, wenn Kinder so in Wien verteilt werden, abgesehen davon, wie schwierig es für die Kinder ist, Freundschaften zu pflegen, wenn ihre Freundinnen und Freunde in einem anderen Stadtviertel wohnen. Ich halte diesen Vorschlag für nicht realisierbar. Ich halte es für sinnvoller, Schulen mit großen Problemen mehr zu unterstützen. Mit Blick darauf, dass in den Volksschulen sinnverstehendes Lesen vermittelt werden soll, womit wir in Österreich ziemliche Probleme haben, müssten diese Ressourcen möglichst früh zur Verfügung gestellt werden.

Halten Sie etwas davon, in irgendeiner Form Leistungschecks einzuführen? Also zum Beispiel, dass der Übergang in die Sekundarstufe nicht durch die Note, sondern durch Eignungsprüfungen geregelt wird?
Wir sehen natürlich, dass es bei der Benotung große Unterschiede gibt. Lehrpersonen sind viel besser darin, die Kinder in einer Klasse in eine Rangreihe zu bringen, als die Leistung über verschiedene Klassen hinweg zu vergleichen. Bei punktuellen Tests sehe ich aber die Gefahr des „Teaching to the Test“: Das heißt, dass Kinder gezielt darauf vorbereitet werden. Und dann sind es wieder Eltern mit höherer Bildung, die wissen, wie wichtig das ist und ihr Kind entsprechend vorbereiten.

Sie kritisieren, dass es zwar einzelne sehr motivierte Schulleitungen und Lehrpersonen gibt, aber keine gesamtheitliche Anstrengung, um benachteiligte Kinder und Jugendliche zu fördern. Wie könnte eine breite Initiative aussehen?
Viele Studien belegen, dass es auf die Lehrpersonen ankommt. Sie machen den Unterschied, ob Kinder gerne lernen und erfolgreich sind. In Österreich wird Anstrengung und Erfolg bei Lehrpersonen zu wenig anerkannt und belohnt. Jede Lehrperson und jede Schulleitung, egal wie sehr sie sich anstrengen und welche Erfolge sie haben, bekommen z.B. das gleiche Gehalt. Das ist nicht motivierend. Obwohl Geld nicht alles ist. In Finnland zum Beispiel verdienen Lehrerinnen nicht mehr als in Österreich, dafür erfahren sie dort eine unheimlich hohe Wertschätzung. Und die Schulen haben viel mehr Autonomie, das heißt sie haben mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Es gibt ein viel größeres Vertrauen seitens der Politik und der Gesellschaft, und das motiviert sehr. So etwas würde ich mir für Österreich wünschen. Aber es setzt einen grundlegenden Kulturwandel voraus.