"Es fühlt sich an wie ein Neubeginn"

Carlos Burger wurde 1943 als Kind Wiener Juden geboren, die 1939 vor den Nationalsozialisten nach Bolivien fliehen mussten. Die Rückkehr nach Österreich im Rahmen eines Besuchsprogramms des Jewish Welcome Service löst widersprüchliche Gefühle aus, erzählt er. Trauer einerseits, aber auch Hoffnung

von Carlos Burger © Bild: Copyright 2024 Matt Observe - all rights reserved.

Wer weiß, wie das Leben unter anderen Umständen weitergegangen wäre. Vielleicht hätte Herr Burger das Hemdengeschäft seines Vaters in der Leopoldstadt übernommen. Oder das Transportunternehmen seines Großvaters in Kagran. Oder er hätte bei seinem Onkel in der Zieglergasse den Pelzhandel gelernt. Aber die Geschichte seiner Familie sollte anders verlaufen. Carlos Burger ist ein Wiener, der nie in Wien gelebt hat.

Burger ist ein ausgesprochen freundlicher Herr. Wir treffen ihn in einem Hotel in der Taborstraße, nicht weit von dort, wo einst sein Vater gelebt und gearbeitet hat. Burger ist auf Einladung des Jewish Welcome Services in Wien, eines Vereins, der es vertriebenen Wienerinnen und Wiener sowie deren Nachkommen ermöglichen will, sich mit ihrer Heimatstadt auseinanderzusetzen. Sich vielleicht sogar auszusöhnen. Aber einfach ist das nicht.

Leben in Wien

Carlos Burger hat ein Buch über die Geschichte seiner Familie geschrieben. Sie reicht weit in Österreichs antisemitische Vergangenheit zurück. Sein Urururgroßvater, ein Rabbiner, der nahe bei Wien lebte, wurde durch das 1787 von Josef II. verfügte "Patent über die Judennamen" gezwungen, den despektierlichen Nachnamen Schweinburger anzunehmen. Ein Schicksal, das seine Familie "mit Stolz und Respekt" akzeptierte, schreibt Burger.

Carlos Burger
© Matt Observe ÖSTERREICHER. Seit Kurzem besitzt Carlos Burger, dessen Eltern 1939 aus Wien fliehen mussten, die österreichische Staatsbürgerschaft. "Mit großem Stolz", wie er sagt

Dennoch, die Schweinburgers und auch die Nussbaums, von denen Burger mütterlicherseits abstammt, waren glücklich im Wien der Vorkriegszeit. Beruflich erfolgreich, etabliert. Man sieht es an den zahlreichen Familienfotos, die in Burgers Buch abgedruckt sind.

Eines zeigt Burgers Mutter Helly und deren Zwillingsschwester Greta in zeittypischen Kleidern und Frisuren Mitte der 20er-Jahre. Die Schwestern waren lebenslustig und gingen abends gerne aus, schreibt Burger, legten Abendkleidung und Makeup aber wieder ab, bevor sie in das religiöse Elternhaus zurückkamen.

»Mit dem Präsidenten zu sprechen, hat mir ein unglaublich positives Gefühl gegeben«

Sein Wien-Besuch fühlte sich insgesamt ambivalent an, so Burger, das Treffen mit Van der Bellen sehr positiv

Mit dieser bürgerlichen Normalität war es vorbei, als die Nationalsozialisten 1938 die Macht in Österreich ergriffen. Beide Familien begriffen rasch, dass sie in Österreich nicht mehr sicher waren, und bemühten sich um Fluchtmöglichkeiten.

Mit Erfolg: Im Februar 1939 bestiegen 21 Mitglieder der Nussbaum- und acht Mitglieder der Schweinburger-Familie im französischen Le Havre die S.S. Orbita, einen Ozeandampfer, der die Flüchtlinge nach Bolivien bringen sollte.

Hier, irgendwo zwischen Europa und Südamerika, beginnt auch Carlos Burgers persönliche Lebensgeschichte. Ein gemeinsamer Bekannter stellte Ernst Schweinburger und Helly Nussbaum einander vor. „Mein Vater war ein sportlicher, gutaussehender, charismatischer junger Mann und meine Mutter eine wunderschöne Frau mit wallendem rotem Haar voller Leben und Hoffnung, die davon träumte, sich zu verlieben und viele Kinder zu haben“, schreibt Burger. „Ich nenne das Schiff, auf dem sie fuhren, oft ‚The Love Boat‘, denn es war das Schiff, das meine Mutter und meinen Vater zusammenbrachte.“

Carlos Burger
© Matt Observe „LOVE BOAT“. Mit der S.S. Orbita flohen die Familien Schweinburger und Nussbaum nach Bolivien. An Bord lernten sich Burgers Eltern kennen

1943 wurde Carlos – genannt "Carli" – in La Paz geboren. Sein Vater starb bereits ein Jahr später an einem Herzinfarkt. Sein Onkel, der Pelzhändler, schaffte es nicht, in Südamerika an den früheren Erfolg anzuschließen. Einem anderen Onkel, der in Wien elegante Gehstöcke angefertigt hatte, ging es ähnlich, er wurde depressiv und krank. Es waren die Frauen, erzählt Burger, die sich am besten durchkämpften. "Ich komme aus einer matriarchalen Familie. Meine Mutter und meine Tanten waren sehr einfallsreich und resilient."

Burgers Tante Lily hatte genau drei Kleider aus Wien mitgebracht. Daraus fertigte sie Schnittmuster an und nähte Kleider.

Zuerst mit einer einzigen Nähmaschine, dann kaufte sie eine zweite, und am Ende hatte sie eine ganze Modefirma aufgebaut, die sie gemeinsam mit ihrem Sohn führte.

Argentinien, USA, Israel

Carlos Burger zog mit seiner Mutter in die USA, von dort nach Argentinien und dann wieder in die USA, wo er mit Unterbrechungen seit 60 Jahren lebt. Ein buntes, glückliches Leben, legt sein Buch "A Story of Survival" nahe. Burger – der verkürzte Name ist der amerikanischen Einbürgerungsbehörde zu verdanken – arbeitete als Therapeut und Sozialarbeiter in den USA und Israel, er ist seit 1968 mit Rita verheiratet, hat zwei Kinder und sechs Enkelkinder.

Carlos Burger
© Matt Observe Carlos Burger zeigt Familienfotos aus seinem Buch

Als er vor zwanzig Jahren erstmals im Rahmen einer Urlaubsreise nach Wien kam, überwogen für ihn die touristischen Aspekte, erzählt Burger. Diesmal, auf den Spuren seiner Vorfahren, sei es anders. "Es geht jetzt mehr um das, was wir verloren haben." Sein Großvater Karl war nach dem Anschluss gezwungen worden, die Stiegen seines Wohnhauses zu schrubben. Anschließend ließen SS-Offiziere den damals 60-Jährigen so lange Runden im Prater laufen, bis er einen Herzinfarkt erlitt und zusammenbrach. "Wenn ich am Prater vorbeikomme, muss ich an meinen Großvater denken", sagt Carlos Burger. "Und wenn ich all die Gebäude sehe, die Juden damals weggenommen wurden, denke ich an meinen Onkel, der alles verloren hat."

Einen äußerst positiven Eindruck habe bei ihm aber der Empfang bei Bundespräsident Alexander Van der Bellen hinterlassen, zu dem Burger und die anderen Teilnehmer des Besucherprogramm geladen waren. "Auf dem Cover meines Buchs sind die bolivianische, die argentinische, die amerikanische und die israelische Fahne abgebildet. Ich habe mich beim Bundespräsidenten dafür entschuldigt, dass die österreichische nicht dabei ist, sie erinnert mich einfach zu sehr an die Hitlerzeit. Aber es fühlt sich jetzt an wie ein Neubeginn. Ich werde meinem Buch noch ein weiteres Kapitel hinzufügen, das von meinen Erlebnissen in Österreich handelt."

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 13/2024 erschienen.