Favelas in Brasilien:
Die gejagten Straßenkinder

"Jugend Eine Welt"-Programmleiter: "Vor der WM will man sie von den Straßen weghaben"

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Die Straßenkinder der Favelas in Brasilien © Bild: Jugend Eine Welt
"Jungend Eine Welt"-Mitarbeiter Hannes Velik betreut Straßenkinder in Brasilien.
© Jugend Eine Welt Hannes Velik mit Straßenkindern, die "Jugend Eine Welt" betreut.

NEWS.AT: Sie kümmern sich bereits seit Jahren um Straßenkinder in Brasilien. Wie ist es dazu gekommen?
Hannes Velik: Ich war schon als Student in Brasilien und habe ein Jahr lang in einer Favela-artigen Umgebung gelebt und vier weitere Jahre im Armenhaus Brasiliens, dem Nordosten. Ich habe die tägliche, knallharte Realität vor allem von Kindern und Jugendlichen miterlebt und bemerkt, dass Bildung die einzige Chance auf Veränderung und der Weg aus der Armut ist. Dadurch habe ich mich für "Jugend Eine Welt" zu engagieren begonnen.

NEWS.AT: Sie waren im Vorfeld der Fußball-WM in brasilianischen Favelas und haben Straßenkinder betreut. Wie gestaltet sich die Situation der Kinder vor Ort?
Velik: Man muss grundsätzlich unterscheiden: Es gibt Kinder, die auf der Straße leben, und die richtigen Straßenkinder. Erstere sind nur tagsüber auf der Straße, weil die Eltern zwar vorhanden, aber eben außer Haus sind, um zu arbeiten und irgendwie das Überleben der Familie zu sichern. Dadurch werden die Kinder stark vernachlässigt und können leicht auf die schiefe Bahn geraten. Darüber hinaus gibt es Kinder, die ihre Eltern verloren haben oder deren Zuhause so sehr von Gewalt oder Drogen geprägt ist, dass sie es dort nicht mehr aushalten. Diese Kinder leben häufig tatsächlich Tag und Nacht auf der Straße.

Die Straßenkinder der Favelas in Brasilien
© Bernhard Braun/Jugend Eine Welt Ein Kind nächtigt in einem Armenviertel in Rio de Janeiro auf offener Straße.

NEWS.AT: Sie haben mit einigen Straßenkindern gesprochen. Was hat sich für die Kinder durch die Fußball-WM verändert?
Velik: Sie haben erzählt, dass sie im Vorfeld der Fußball-WM oft von der Straße geholt und in sogenannte Notschlafstellen gebracht werden. Seit 2012 erlaubt ein Gesetz im Bundesstaat Rio de Janeiro, das im Hinblick auf künftige Mega-Events wie die WM verabschiedet wurde, dass Straßenkinder bis zu drei Monate in diesen Notunterkünften festgehalten werden können. Und die Kinder, die dort waren, haben einiges erzählt, das sehr nach Folter klingt: Sie haben zum Beispiel von nassen Böden und Elektroschocks gesprochen. Inwieweit diese Berichte stimmen, ob es sich bei solchen Vorkommnissen um Einzelfälle handelt oder die Kinder nur unser Mitleid erregen wollten, ist schwer zu sagen. Sicher ist, dass die Straßenkinder nicht sehr beliebt sind und immer wieder zur Zielscheibe von Gewalt werden. Man will sie jetzt vor der WM von den Straßen weghaben, damit sie das schöne Stadtbild nicht stören.

NEWS.AT: Im Zuge Ihrer Arbeit kommen Sie immer wieder mit tragischen Schicksalen in Berührung. Welcher Fall ist Ihnen besonders in Erinnerung?
Velik: Ich habe einen sehr berührenden Fall in einer Favela in Gravatá erlebt, das ist eine Stadt im Nordosten Brasiliens mit circa 70.000 Einwohnern. Dort haben mir die Don-Bosco-Schwestern, die Projektpartner von "Jugend Eine Welt" sind, den etwa achtjährigen Murilo vorgestellt, der täglich zu ihnen ins Jugendzentrum kommt. Seine Schwester wurde im Alter von sieben Jahren entführt, vergewaltigt und ermordet. Die verbliebenen sieben Geschwister sind von ihrer Tante aufgezogen worden, weil die Mutter das Ganze nicht verkraftet hat. 2013 ist auch noch der Bruder von Murilo im Alter von knapp 18 Jahren an einer Überdosis Drogen gestorben. Wir haben die Familie, die in schlimmen Verhältnissen lebt, besucht. Wir sind der Mutter, den Kindern und zum Schluss der Großmutter begegnet. Beim Gespräch mit der Großmutter habe ich mir gedacht: "Die arme Frau. Wie hält man das alles aus, die Lebensumstände und dazu die tragische Familiengeschichte." Und es ist mir so vorgekommen, als hätte sie meine Gedanken gehört, weil keine fünf Sekunden später hat sie sich weinend an meine Schulter gelehnt. Die Erinnerung daran ist für mich heute noch sehr, sehr berührend. Aber die bittere Armut in der Favela ist leider Realität. Um solche Schicksale zu vermeiden, engagiere ich mich für die Menschen dort. Der kleine Murilo hat durch unser Projekt eine Chance, dem Kreislauf aus Armut und Gewalt zu entkommen.

Die Straßenkinder der Favelas in Brasilien
© Jugend Eine Welt Viele Straßenkinder putzen Schuhe, um zu überleben.

NEWS.AT: Die umstrittenen Polizeieinsätze zur "Befriedung" der Favelas geraten immer wieder in die Schlagzeilen. Wie denken die Bewohner vor Ort über solche Aktionen der Behörden?
Velik: Die Einsätze bewirken schon einmal sehr viel. Böse Buben verabschieden sich, aber es bleiben immer noch genügend Drogen über. Und natürlich ist es eine Art der Verdrängung und die "Befriedung" auf gewisse Weise ein zweischneidiges Schwert. In der Favela Jacarezinho (eines der größten Armenviertel in Rio; Anm. der Red.) , wo unsere Don-Bosco-Partner seit 45 Jahren tätig sind, haben die Polizeieinsätze durchaus positive Auswirkungen gezeigt. Die Bewohner der Favela sagen, dass sie viel sicherer unterwegs sind, seit die Polizeipräsenz vor Ort da ist. Es kommt also immer darauf an, wie diese "Befriedung" angegangen wird.

NEWS.AT: Inwieweit waren Sie als "Jugend Eine Welt"-Mitarbeiter aufgrund der Kriminalität in den Armenvierteln schon einmal in einer gefährlichen Situation?
Velik: Prinzipiell ist es nicht so gefährlich, weil die Bewohner wissen, dass wir als "Jugend Eine Welt"-Mitarbeiter bei unserem Don-Bosco-Partner zu Besuch sind und weil man immer als Gruppe unterwegs ist. Wenn man sich in die düsteren Gassen der Favelas hineinbewegt, kann es aber schon auf einmal heißen: "Schnell, schnell weiter. Jetzt keine Fragen." Es gibt einfach gewisse Drogen-Spots, wo sich Personen aufhalten, die auf keinen Fall fotografiert werden wollen. Dort kann es sehr schnell zu gefährlichen Situationen kommen. Ich erinnere mich, als ich das erste Mal 2002 in der Favela war, hat der Fahrer darauf bestanden, dass sich alle abschnallen. Er hat uns erklärt, wir müssen uns schnell auf den Boden legen können, weil jederzeit geschossen werden könnte. Ein Kollege von mir musste einmal eine knappe Stunde lang in Deckung verharren. Damals hat sich das Drogenkartell ein Feuergefecht mit der Polizei geliefert. Da wird einem schon anders.

NEWS.AT: Unter den Drogendealern leiden auch diejenigen Bewohner der Favelas, die nicht kriminell sind.
Velik: Es ist wichtig zu wissen, dass in den Favelas auch normale Menschen leben. Sie sind gastfreundlich, herzlich und einfach tolle Menschen, die nur Chancen brauchen. Diese Chancen versuchen wir ihnen zu geben. Ich durfte zum Beispiel einen jungen Mann kennenlernen, der jahrelang von unseren Don-Bosco-Partnern betreut wurde. Er hat auf der Straße gelebt und durch das Projekt die Chance erhalten zu studieren. Heute ist er Zahnarzt und Gesichtschirurg.

NEWS.AT: Welche Rolle spielt Sport beziehungsweise Fußball für Kinder und Jugendliche in Brasilien?
Velik: Unsere Don-Bosco-Partner haben zu fast 100 Prozent einen Sport- oder Fußballplatz zur Verfügung. Warum? Weil Kinder von Sport angezogen werden, sie gehen gerne dort hin, wo sie sich sportlich betätigen können. Aus der Spiel-Situation heraus kann man mit den Kindern ins Gespräch kommen, sie ist praktisch der erste Anknüpfungspunkt. Vom Sport ausgehend lernen die Kinder spielerisch Teambildung, Pünktlichkeit und Vertrauen zu Erwachsenen. In einem zweiten Schritt werden Bildungsangebote gemacht, die von den Kindern und Jugendlichen sehr gerne angenommen werden. Sie nutzen die wenigen Chancen, die sie bekommen.

Die Straßenkinder der Favelas in Brasilien
© Jugend Eine Welt Fußball spielt eine wichtige Rolle für die Straßenkinder.

NEWS.AT: Wie stehen Behörden und die Gesellschaft in Brasilien zu den Straßenkindern?
Velik: Die Straßenkinder sind im Vorfeld der Fußball-WM noch weniger gern gesehen. Aber sie sind schon seit Jahrzehnten nicht gerne gesehen. Teilweise haben sich früher sogar Todesschwadronen gebildet, die Jagd auf Straßenkinder gemacht haben. So ist es vor rund 21 Jahren zum Massaker vor der Candelária-Kirche in Rio gekommen, bei dem acht Kinder erschossen wurden. Zu der Zeit wurden die Kinderrechte in Brasilien gerade stark propagiert und aufgrund dieses Vorfalls konnte die Ratifizierung der Kinderrechte letztendlich durchgesetzt werden. Zumindest auf dem Papier wurde die Situation damit verbessert.

NEWS.AT: Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung in Bezug auf die Fußball-WM?
Velik: In der Brust eines jeden Brasilianers schlagen zwei Herzen. Einerseits ist jeder Brasilianer fußballnarrisch und will, dass Brasilien Fußball-Weltmeister wird. Und andererseits ist die Stimmung aufgebracht. Die Bewohner wollen es nicht mehr hinnehmen, dass die Steuergelder eingesetzt werden, um große Baufirmen und Einzelpersonen durch solche Mega-Events zu begünstigen. Dabei bleiben die Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Infrastruktur hinter dem Erwarteten zurück. Die Personen, die sich in Hinblick auf die WM uns gegenüber kritisch geäußert haben, waren eindeutig in der Mehrzahl.

NEWS.AT: Was muss sich ändern, um die Situation der Straßenkinder in Brasilien zu verbessern?
Velik: Bildung überwindet Armut. Das ist die reine Wahrheit. Man muss diesen Kindern die Chance auf Bildung geben. Damit wird auch das Demokratieverständnis gestärkt, die zuständigen Behörden und Politiker werden zur Verantwortung gezogen und müssen entsprechend handeln.

NEWS.AT: Wie stark erleben Sie den Kontrast, wenn man von den Armenvierteln Brasiliens wieder zurück nach Österreich kommt?
Velik: Ein Journalist, ein ziemlich tougher Mann, war mit mir in Brasilien. Und als er nach Hause gekommen ist, hat er seiner Frau nur ein bisschen erzählt, nicht einmal die schlimmen Sachen. Er hat mich dann angerufen und zu mir gesagt: "Meine Frau ist auf einmal in Tränen ausgebrochen. Wir müssen miteinander reden, ich muss das verarbeiten." Er hat erst durch seine Frau realisiert, dass ihn das viel mehr berührt hat, als er das zuerst wahrgenommen hat. Und das ist auch meine persönliche Erfahrung: Es gibt nichts Besseres als sich mit Menschen oder Gruppen auszutauschen, die etwas Ähnliches erlebt haben.

NEWS.AT: Sie sind leidenschaftlich im Bereich der sozialen Projekte tätig. Wie lange wollen Sie sich noch engagieren?
Velik: Ich bin bereits gute 20 Jahre in dem Bereich tätig und habe noch kein einziges Projekt erlebt, das sinnlos wäre. Nicht umsonst mache ich alles, was möglich ist, um dabei zu helfen, Armut durch Bildung zu überwinden. Ich helfe anderen auch, um mir selbst zu helfen. Ich nehme etwas mit, man kann nicht so tun, als ob das alles nur altruistisch wäre. Derzeit gibt es nichts Schöneres für mich, als diese Arbeit und ich will das durchziehen, solange ich kann. Da gibt es kein Limit.

"Jungend Eine Welt"-Mitarbeiter Hannes Velik betreut Straßenkinder in Brasilien.
© Jugend Eine Welt Hannes Velik gemeinsam mit hilfsbedürftigen Kindern und Jugendlichen.

Hannes Velik und eine Mitarbeiterin von "Jugend Eine Welt" sprechen mit Straßenkindern in Rio:

Zur Person:
Hannes Velik (geboren am 8. Juni 1965) ist bereits als Student nach Brasilien gereist, hat dort mehrere Jahre gelebt und ist so auf die Umstände in den Armenvierteln und die Straßenkinder aufmerksam geworden. Seit 1990 ist der gebürtige Kärntner im sozialen und entwicklungspolitischen Bereich tätig. Im Jahr 1998 wird er Leiter für Internationale Programme bei "Jugend Eine Welt". Im Vorfeld der Fußball-WM in Brasilien besuchte der Straßenkinder-Experte mehrere von „Jugend Eine Welt“ geförderte Don-Bosco-Hilfsprojekte und führte Gespräche mit auf der Straße lebenden Kindern und Jugendlichen sowie brasilianischen Kinderrechts-Experten.

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