Doppeltes Spiel

Ist Ihr Mann auf Dienstreise, oder führt er ein Doppelleben?

von Doppelleben © Bild: Fabiana Ponzi/istockphoto.com

Samstag, sieben Uhr früh. Stefan* wird vom Vibrieren seines Handys geweckt - eine SMS. "Schatz, bring bitte noch Eier, Milch und Windeln mit. Fahr vorsichtig! Bussi." Stefan gibt seiner Frau Lisa*, die neben ihm im Bett schläft, einen zärtlichen Kuss, schlüpft in seine Kleider, hinterlässt einen Zettel, auf den er schreibt, dass er bereits zum Golfwochenende aufgebrochen ist und Lisa nicht wecken wollte, setzt sich in seinen SUV und fährt zu seiner Familie.

Was nach einer Szene aus den "Vorstadtweibern" klingt, war Stefans Realität. Sieben Jahre lang hatte der mittlerweile 50-jährige Manager eines großen österreichischen Konzerns neben seiner Ehefrau Lisa eine Lebensgefährtin und einen gemeinsamen Sohn. Keine der Frauen wusste von der anderen.

In Büchern und Filmen ist ein Leben wie dieses der Stoff, aus dem gute Geschichten gemacht sind. In der Realität bedeutet es für den, der es lebt, vor allem eins: Stress.

Wie und warum?

Der Atlantiküberflieger Charles Lindbergh hatte neben seiner Familie in den USA noch mindestens zwei weitere Familien in München. Der frühere Wettermoderator Jörg Kachelmann soll mindestens sechs Partnerinnen gleichzeitig gehabt haben, von denen jede dachte, sie sei die einzige. Wird ein Doppelleben publik, nötigt das den Beobachtern neben ungläubigem Kopfschütteln und Neugier meist eine gewisse Bewunderung ab. Zwei Fragen drängen sich auf: "Wie und warum macht man so was?" und "Wie konnte ein Doppelleben über so lange Zeit unbemerkt bleiben?"

"Ein Leben zwischen den Stühlen ist anstrengend", sagt Stefan. Neben Stressresistenz und einer ordentlichen finanziellen Grundausstattung braucht man vor allem Organisationstalent, Durchhaltevermögen und eine gehörige Portion an Erfindungsreichtum - oder, weniger nett ausgedrückt: Lügenbereitschaft. Die Lüge, auf der Stefans Doppelleben begründet war, war die: "Ich habe meine Frau verlassen."

»Ich bin in dieses Leben hineingerutscht.«

Das Doppelleben, das sieben Jahre andauern sollte, hatte begonnen. "Alle, die fremdgehen, erleben im Grunde die gleiche Situation - nur meist über einen kürzeren Zeitraum. Bei mir wurde es eben zum Dauerzustand. Ich bin in dieses Leben hineingerutscht", sagt Stefan.

Darum lügen wir

Dass Menschen andere Menschen belügen, ist erst einmal nichts Besonderes. "Alle Menschen lügen, und das ist auch gut so", sagt der Soziologe Peter Stiegnitz, der sich seit drei Jahrzehnten mit der wissenschaftlichen Erforschung der Lüge beschäftigt. Meistens, nämlich zu rund 40 Prozent, lügen wir, um uns Ärger oder Sanktionen zu ersparen, und zu 14 Prozent lügen wir, um uns unser Leben zu erleichtern und uns nicht mit Konfliktsituationen auseinandersetzen zu müssen. Auch der Wunsch, geliebt zu werden, spielt eine Rolle. Beliebt sind auch Übertreibungen und Weglassungen, um selbst besser dazustehen.

Kinder entdecken die Lüge, also die bewusste Abwendung von der Wirklichkeit, spätestens im sechsten Lebensjahr, und auch das ist laut Stiegnitz ganz und gar kein Grund zur Sorge, denn lügen lernen ist Teil der kognitiven Entwicklung und Zeichen von Intelligenz. Außerdem ist das Lügen kleiner Kinder ein erster Schritt weg von der unhinterfragten Symbiose mit den Eltern, hin zur Unabhängigkeit.

Lügen ist sozial erwünscht

Das wird am Beispiel von Kleinkindern, die diese Fähigkeit noch nicht erworben haben, besonders deutlich, sagt der Psychotherapeut Wolfgang Pale. "Wir finden es lustig und sind als Eltern peinlich berührt, wenn kleine Kinder die Wahrheit sagen und damit Tabus verletzen." Etwa wenn sie das Essen der Oma wahrheitsgemäß als "grausig" bezeichnen, ausplaudern, dass Mama die selbstgebackenen Kekse der Tante regelmäßig an die Enten verfüttert oder die "schiache" Montessori-Puppe vom Onkel still und heimlich gegen eine Disney-Barbie umgetauscht wurde. "Lügen ist wichtig", sagt Stiegnitz. "Ohne Lügen wäre kein Sozialleben möglich", meint Pale.

Grenzen ziehen

Der erwachsene Mensch lügt laut Stiegnitz durchschnittlich 200mal pro Tag; meist handelt es sich dabei um Flunkereien und erwünschte Höflichkeitsfloskeln. Sie machen das Leben lebenswerter, solange sie sich in einem gewissen moralischen Rahmen bewegen. Die Grenze verläuft allerdings dort, "wo ich mir und anderen bewusst Schaden zufüge", erklärt der Lügenforscher.

Diese Grenze zu ziehen ist nicht immer leicht, sagt Pale. Auch die moralische Kategorisierung von Lüge lehnt der Psychotherapeut ab. Er sagt, der Mensch greife immer dann zur Lüge, wenn seine Wünsche - wie in Stefans Fall der Wunsch, mit zwei Frauen zusammen zu sein - den eigenen Moralvorstellungen oder den Ansprüchen der Gesellschaft widersprechen. Stefan hätte seinen Partnerinnen ein Zusammenleben zu dritt vorschlagen können, aber das kam für den Manager, dessen Bild von Beziehung eher konservativ ist, nicht infrage.

"Das wäre von den Frauen zu viel verlangt gewesen", sagt er, und auch er selbst findet diese Vorstellung "abartig". Also lügt Stefan. Und das aus gutem Grund, wie er findet: "Ich wollte niemanden verletzen."

Wenn eine Lüge zur "Selbstlüge" wird

Das Problem von Lebenslügen ist, dass man sie irgendwann selbst glaubt. Das wird dann als "Selbstlüge" bezeichnet. Selbstlügen werden benutzt, um unliebsame Wahrheiten zu verdrängen, bis sie allmählich in die eigene Persönlichkeit integriert werden, so Pale: "Jeder schustert sich die Realität so zusammen, dass sie mit dem eigenen Selbstideal und der Moral zusammenpasst."

Wieso merkt niemand etwas?

Und was ist mit den Frauen? Haben sie wirklich all die Jahre über nichts vom Doppelleben ihres Mannes geahnt? Stefan glaubt sehr wohl, dass seine Partnerinnen etwas gespürt haben, dass sie es aber nicht wahrhaben wollten. Hätten sie es angesprochen, wären sie gezwungen gewesen, Konsequenzen zu ziehen - und eigentlich lief es ja für alle Beteiligten gut, meint Stefan. Er ist überzeugt, sie wollten belogen werden.

"Die Menschen sind alle so geartet, dass sie lieber eine Lüge als eine Absage hören wollen", stellte Marcus Tullius Cicero schon vor über 2.000 Jahren fest. Auch Lügenforscher Stiegnitz ist überzeugt: "Menschen wollen bis zu einem gewissen Grad belogen werden." Lügen sind angenehmer zu glauben, sie lullen den Belogenen in eine Wattewelt, in der er sich der harten Realität nicht stellen muss. "Mach die Augen zu und küss mich. Und dann sag, dass du mich liebst. Ich weiß genau, es ist nicht wahr, doch ich spüre keinen Unterschied, wenn du dich mir hingibst. Mach die Augen zu und küss mich, mach mir ruhig etwas vor. Ich vergesse, was passiert ist, und ich hoffe und ich träume, ich hätt dich noch nicht verloren ", sangen Die Ärzte und sprachen damit unzähligen Liebeskummergeplagten aus der Seele. Wenn die Betroffenen dem Offensichtlichen nicht ins Auge sehen wollen oder können, dann herrscht meist ein "nicht ausgesprochenes Stillhalteabkommen", bei dem beide Parteien je für sich beschließen, der Wahrheit nicht allzu tief auf den Grund zu gehen.

Wenn die Wahrheit dann doch irgendwann ausgesprochen wird, kann das sehr verletzend sein, sagt Pale. Dann wird man gezwungen, sich mit den Konsequenzen auseinanderzusetzen. Nicht selten wird dadurch das Bild, das man von sich selbst hat und das man aufrechterhalten wollte, stark erschüttert.

Der Punkt, an dem alles zusammenbrach

Stefans Lügenhaus brach "durch einen dummen Fehler" in sich zusammen. Er wurde "übermütig" und verschaute sich im Büro in eine Dritte, mit der er ein "Geplänkel" anfing. Monika bekam Wind davon. Für sie war es der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sie machte kurzen Prozess, setzte Stefan vor die Tür und beendete jeden persönlichen Kontakt. Für Stefan brach eine Welt zusammen. Nicht nur, dass er einen geliebten Menschen und sein Leben in der Kleinfamilie verloren hatte, er musste auch noch zusehen, wie ihm die Fäden aus der Hand genommen wurden - und sich sein Scheitern eingestehen.

Plötzlich hatte er jede Menge Zeit, zum ersten Mal seit vielen Jahren war er mit sich allein. "Diese Zeit war sehr heilsam, ich habe gelernt, meine Bedürfnisse selbst zu befriedigen." Nach und nach bemerkte er, wie der jahrelange Stress und Ballast des Doppellebens von ihm abfielen, und spürte eine große Erleichterung. Erst im Nachhinein konnte er sehen, was für ein Leben er geführt hatte. Seiner Ehefrau Lisa gestand Stefan sein Doppelleben - "in groben Zügen". Sie sind heute, drei Jahre nach dem Bruch mit Monika, noch zusammen. Warum sie ihm verziehen hat, kann Stefan nicht sagen. Ein Doppelleben würde er nie wieder führen: "Viel zu anstrengend."

* Namen von der Redaktion geändert

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