Albtraum im Rückspiegel

Drei Menschen starben bei Amokfahrt von Graz. Betroffene erzählen.

von Albtraum GRaz © Bild: News Kanizaj Marija Auftrag

Ein sonniger und für diese Jahreszeit zu warmer Nachmittag in Graz. Der Himmel ist klar, die Stadt in herbstliches Licht getaucht. Zwischen Supermarkt und Rathaus gestikuliert Helmut Leitner mit seinen Krücken. Er zeigt auf die Stelle, an der er vor einem halben Jahr beinahe gestorben wäre. Der Endfünfziger ist Hubschrauberpilot, hat schon einige Promis geflogen, darunter Bundespräsident Heinz Fischer. Ob er jemals wieder fliegen kann, weiß er nicht.

Helmut Leitner trägt Anzug, Hemd, Krawatte, Einstecktuch. Seinen Stolz hat er sich nicht nehmen lassen; nicht von einem Amokfahrer. Er erinnert sich an den 20. Juni 2015. An den Tag, der so unbeschwert begann. Ein Samstagmorgen mit Sonnenschein, so wie heute. Helmut Leitner, seine Frau Manuela und die Söhne Philipp und Lukas, acht und zehn Jahre alt, fahren mit den Fahrrädern in die Stadt. Erst treffen sie Freunde auf dem Bauernmarkt, dann radeln sie in die Innenstadt. Auf dem Hauptplatz entdeckt Philipp die Carrera-Rennbahn, die wegen des Formel-1-Wochenendes in Spielfeld aufgebaut ist. "Bei der Rückfahrt schauen wir vorbei", verspricht ihm seine Mutter.

Auf der anderen Seite der Innenstadt steigt Anna-Sophie H. vom Fahrrad, als sie die Herrengasse erreicht. Die 20-Jährige ist mit einer Freundin unterwegs. Sie sind mit anderen Studenten zum Pizzaessen verabredet; eine Lernpause vom Pharmaziestudium, fünftes Semester. Bald sind Prüfungen, Anna-Sophie H. ist eine sehr ehrgeizige Studentin. Zur gleichen Zeit sitzt ihre Mutter, Gertrude H., im Auto und bringt die jüngere Tochter zum Flughafen nach München. Drei Wochen Au-pair-Aufenthalt in Madrid stehen an.

Die beiden Familien können nicht wissen, dass in diesem Augenblick, wenige Kilometer von ihnen entfernt, ein 26-jähriger Familienvater durchdreht. Sie ahnen nicht, dass der Mann in diesem Moment in seinen Geländewagen steigt, um durch die Innenstadt zu rasen. Und sie haben keine Ahnung, dass sie, wie viele andere, in wenigen Minuten Thema einer Abfolge von Agenturmeldungen sein werden. 12:54:04: "Alarm: Geländewagen raste in Fußgänger in Innenstadt Graz: Verletzte." 13:25:48: "Eilt: Geländewagen raste in Fußgänger - Augenzeuge: zwei Todesopfer."

Der Amokfahrer hat schon drei Menschen getötet, als Familie Leitner sich noch auf den Bummel freut. Zwischen Supermarkt und Rathaus wollen sie die Straße überqueren, steigen von den Rädern und schieben. Ganz vorne geht Lukas, Mutter Manuela Leitner folgt ihm. Dahinter Philipp und sein Vater.

Bloß nicht bewegen

Das Quietschen der Reifen zerreißt die wohlige Wochenendstimmung. Familie Leitner braucht ein paar Sekunden, um zu begreifen. Der zehnjährige Lukas reagiert zuerst. Er lässt sein Rad los und rennt. Manuela Leitner schaut sich nach dem anderen Kind um, nach Philipp. Der Geländewagen kommt näher. "Ich hatte das Gefühl, er rast mit 200 km/h auf uns zu." Das Auto erfasst Philipp und schleudert ihn meterweit durch die Luft. Sein zierlicher Körper prallt gegen die Steinfassade des Rathauses und landet am Gullydeckel davor.

Manuela Leitner rennt zu ihrem Sohn. Seine linke Gesichtshälfte hat es schwer erwischt. Er blutet, ist blau im Gesicht. Dann verdreht er die Augen. Sie versucht ihren Sohn in die stabile Seitenlage zu bringen, aber Passanten wollen sie davon abhalten. Bloß nicht bewegen. Die Mutter hört nicht auf sie: "Entweder mein Kind stirbt jetzt oder ich kann ihm noch helfen." In ihrem Kopf rattert es. Wie geht noch mal die stabile Seitenlage? Eine Ärztin, die zufällig vorbeikommt, hilft ihr. Manuela Leitner denkt: "Wo verdammt noch mal ist eigentlich mein Mann? Er muss mir helfen. Jetzt!"

Sie dreht sich zu der Stelle um, an der sie ihren Mann zuletzt stehen gesehen hat. Die vielen Menschen versperren ihr die Sicht. Sie kneift die Augen zusammen, scannt mit ihrem Blick die Menschen, sucht den Boden ab. Dann entdeckt sie ihren Mann. Er liegt nur wenige Meter entfernt am Asphalt. Sie läuft zu ihm. Er blutet und scheint nicht zu atmen. Sie denkt, er ist tot.

Der zehnjährige Lukas sieht alles mit an. Er weiß später am besten Bescheid, wie der Amokfahrer auf die Familie zugerast ist, wie er erst den Vater rammte und dann den Bruder. Lukas wächst in diesem Moment über sich hinaus. Er kniet sich neben seinen schwer verletzten Vater und verschafft seiner Mutter damit die Möglichkeit, an Philipps Seite zu wachen.

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Wie in Zeitlupe

Auf der anderen Seite des Rathauses, vor einem Modegeschäft, kämpft Anna-Sophie H. um ihr Leben. Mit der Freundin hatte sie versucht, vor dem Auto in eine Passage zu flüchten. Was genau passierte, weiß sie nicht mehr. Es war alles viel zu schnell. Aber das wenige, woran sie sich erinnern kann, passierte für sie wie in Zeitlupe. Sie sah den Wagen auf sich zufahren. Versuchte wegzulaufen, dann erwischte sie das Auto von hinten. Wie eine weggeworfene Puppe liegt Anna-Sophie H. am Straßenrand. Sie kann noch mit dem Sanitäter sprechen, nennt ihm ihren Namen, erzählt, was sie studiert, dann verliert sie ihr Bewusstsein.

Gertrude H. hat ihre jüngere Tochter verabschiedet, als ihr Handy läutet. Die Freundin von Anna-Sophie ist am Telefon. Die Nachrichten treffen die Mutter wie ein Frontalaufprall. Helmut Leitner wird in ein Krankenhaus gebracht, seine Frau wird Stunden brauchen, bis sie ihn dort gefunden hat. Sohn Philipp überlebt mit mehreren Brüchen, einer Lungenquetschung, Prellungen und Schnittwunden. Er wird sofort operiert. Am späten Abend fährt Manuela Leitner in die Innenstadt. Sie will noch einmal zwischen Supermarkt und Rathaus stehen, um begreifen zu können, was ihrer Familie an diesem Samstag angetan wurde. Sie beobachtet, wie jemand das Blut ihres Mannes mit dem Wasserschlauch wegspritzt. Sie betrachtet die Kerzen, die an der Stelle stehen, wo kurz zuvor ihr Sohn lag. Ein Passant nähert sich Manuela Leitner und spricht ihr sein aufrichtiges Beileid aus. Erst jetzt kommen ihr die Tränen: "Meine Familie hat überlebt. Gott sei Dank."

Bei Anna-Sophie H. zählen die Chirurgen im Krankenhaus mehr als zehn Brüche an Oberschenkel, Schambein, Hüfte, Wirbelsäule und Rippen. Ihr Becken ist zertrümmert, Leber und Milz sind gerissen, die Lunge ist zusammengefallen. Drei Monate muss die Studentin liegen, um ihre Knochen nicht zu belasten. Immer wieder durchlebt sie Panikattacken. Ihre Mutter Gertrude H., die Gastronomin ist, lässt sich beurlauben. Sie zieht zu ihrer Tochter ins Spital. Sie kümmert sich rund um die Uhr um die 20-Jährige, füttert sie, hilft ihr beim Waschen und bettet sie um, wenn sie Schmerzen hat. Am Abend telefoniert sie mit der jüngeren Tochter in Spanien; sie machen sie gegenseitig Mut.

Als Anna-Sophie H. nach Hause darf, muss erst umgebaut werden. Ein Krankenbett wird angeschafft, Trainingsgeräte gekauft. Die Rettung fährt die Studentin dreimal die Woche zur Physiotherapie. Die Mutter ärgert sich seither mit den Versicherungen und den Ämtern herum. "Der Antrag für die Reha soll plötzlich verschwunden sein", sagt sie. "Das kostet doch alles zusätzlich Kraft."

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Wie ein Sechser im Lotto

Ein knappes halbes Jahr nach der Amokfahrt stehen die beiden Familien wieder in der Innenstadt. Sie haben alle Bilder noch genau vor Augen, als wären sie eben erst aus einem Albtraum erwacht. Nach wie vor fühlt sich Helmut Leitner hier unwohl. "Ich könnte auf diesem Platz nicht mehr draußen sitzen, um Kaffee zu trinken. Ich hätte immer Angst, dass ein Auto um die Ecke biegt." Lukas nimmt seinen Vater an der Hand und sagt: "Papa, das ist doch wie ein Sechser im Lotto. Ein schrecklicher zwar, aber der passiert auch nur einmal im Leben." Fünf Mal wurde Helmut Leitner operiert. Sein Sohn Philipp musste seinen neunten Geburtstag im Spital verbringen. Er hat noch häufig Kopfschmerzen, kann sich dann schlecht konzentrieren. Die ganze Familie wird psychologisch betreut.

130 Zeugen, 2700 Seiten

Gertrude H. ist stolz auf ihre Tochter. "Sie beißt sich durch ihre Physiotherapie durch, ist noch oft erschöpft und geht trotzdem schon wieder zur Uni", sagt sie. Anna- Sophie H. will so schnell wie möglich die Prüfungen nachholen, die sie verpasst hat. Für ihre Mutter ist es ein Wunder, dass sie überlebt hat. "An diesem Tag war ein Ärztekongress in Graz. Das war unser großes Glück", sagt die Mutter. Anna-Sophie fügt hinzu: "Auch die Polizei hat gut gearbeitet. Ich hätte das sonst nicht überlebt."

Die Ermittlungen der Polizei sind abgeschlossen. 2700 Seiten umfasst der Akt. Mit 130 Zeugen haben die Beamten gesprochen. Laut Staatsanwalt wird die Anklage frühestens Ende Jänner 2016 fertig sein. Die finanzielle Entschädigung hilft den Familien dabei, Anschaffungen zu machen, Arbeitsausfälle zu überbrücken. Ihr Anwalt Gunther Ledolter möchte, dass die Versicherungssumme erst an die Opfer ausbezahlt wird und erst dann die Sozialversicherungsträger entschädigt werden.

Der Amokfahrer ist selbst Familienvater. Beim Prozess wollen die beiden Opferfamilien ihn nicht sehen. Aber sie wollen Gerechtigkeit. "Er soll dafür bezahlen und nicht als geisteskrank dargestellt werden und somit schuldlos bleiben", sagt Helmut Leitner. Die Verteidigerin des Angeklagten hat aber genau das vor.

Kommentare

Schade,dass solcher Abschaum nicht an Ort und Stelle beseitigt wurde.
Für solche Verbrechen gibt es keine Ausreden und Argumente.Wer für solche Kreaturen Verständnis aufbringt,ist selbst kriminell.

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